Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
Vom Netzwerk:
gelegen kommt.« Sie bemerkte nicht, dass sie ihn
     plötzlich ganz selbstverständlich duzte, als seien sie sich endlich so nahe, dass sie auf derselben Ebene miteinander sprachen.
     Sie spürte auch den Schmerz in ihrer Hand nicht, die sich, während er sprach, fest um die Spiegelscherbe in ihrer Schürzentasche
     geschlossen hatte.
    »Gib mir die Hand«, sagte Segantini. »Zum Abschied. Morgen gehe ich nach Soglio in mein Winterquartier.«
    Sie zog die Hand aus der Schürze und legte sie auf seine Brust.
     
    Segantini sah ihr nach. Sie ging die kleine Allee hinauf, ihr Haar leuchtete im Licht der untergehenden Sonne. Dann tauchte
     sie in den Schatten ein, und die Farben verblassten.
    ***
    Vor dem Hotel Bregaglia in Promontogno wurden die Pferde gewechselt. Der Maloja fiel in unendlichen Spitzkehren senkrecht
     um fast tausend Meter ab, und von der Höhe aus konnte man den Eindruck haben, als stürze sich die Postkutsche den Pass hinunter
     ins Tal. Dort dann hatte der Kutscher Pferde und Wagen vorsichtig durch die engen Dörfer des Bergell gelenkt, Casaccia, Vicosoprano,
     Borgonovo, Stampa.
    Segantini, der ohne die Familie und ohne die zahlreichen anstehenden Rechnungen bezahlt zu haben, vorausreiste, vertratsich die Füße. Am Berghang zu seiner Rechten, hoch auf einer Felsterrasse gelegen, klebte das Dorf. Die Glocke der alten Kirche
     von Soglio schlug die volle Stunde.
    Segantini lächelte. Es klang, als hämmere ein Schmied sein Blech. Wie nahe sein Italien hier war. Eines Tages würde er, Segantini,
     Sohn des Agostino Segatini nicht mehr staatenlos sein, sondern ein italienischer Bürger mit italienischem Pass. Irgendwann
     würden seine Bemühungen bei den Ämtern von Erfolg gekrönt sein. Er würde nicht mehr in Österreich als Deserteur gelten und
     ein Papierloser in Italien sein, und er würde nicht mehr Jahr für Jahr in der Schweiz das Recht einholen müssen, weitere zwölf
     Monate in der Schweiz leben zu dürfen. Eines Tages würde er auch seine Heimatstadt Arco besuchen, am nördlichen Ende des Gardasees.
     Arco, das er nicht betreten durfte, weil es österreichisch war und er sich in seiner Jugend dem österreichischen Militärdienst
     entzogen hatte.
    Bläulicher Rauch stieg aus den cascine auf, den Hütten, in denen die Kastanien gedörrt wurden, und schlängelte sich zwischen
     den herbstlich gefärbten Blättern der Bäume in dünnen Fahnen zum Himmel empor. Segantini sog die klare, kühle Herbstluft ein
     und spähte zu den Felsen hinauf. Er wusste, dass es dort Steinadler gab. Bei verhangener Sicht stießen sie hinab bis in die
     Dörfer, schlugen Schafe und holten die Hühner schneller, als man zusehen konnte. Bei der Adlerjagd hatte man in ihnen königliche
     Gegner, die einem mit einem Schlag ihrer Schwingen den Arm brechen konnten wie Glas.
     
    Die Kutschpferde quälten sich die enge Straße nach Soglio hinauf, hier und da gaben die Wolken einen Blick auf die Bergspitzen
     frei. Der Palazzo Salis, ein prächtiges Gebäude, war eine standesgemäße Unterkunft. Bis in den Frühling hinein würde der erste
     Stock der darin untergebrachten Pension sein Zuhause sein.
    Die Räume für die Familie Segantini waren bereit. Er stieg die breite Granittreppe des Palazzo hinauf, der Wirt schloss die
     schweren, in Stein gefassten Türflügel auf und ließ Segantini den Vortritt. Die alten Holzböden knarrten unter seinen Stiefeln.
     Der Kachelofen war eingeheizt, die Holzläden hatte man zurückgeschlagen, sodass das leuchtende Licht der Vorabendstunde in
     die Zimmer und auf die barocken Vergoldungen der alten Möbel fiel. Die Kassettendecken, die verzierten Wände und Türen aus
     Arvenholz waren Meisterwerke von Schreinern aus vergangener Zeit. Sein Schwager Bugatti hätte seine Freude daran gehabt.
    Segantini zog seine Schnürstiefel aus, öffnete die Fenster weit, begrüßte die bizarren Gipfel des Badile und der Sciora auf
     der anderen Seite des Tals und ließ sich auf das Himmelbett mit den gedrechselten Säulen fallen. Er sah zu dem Baldachin auf,
     der sich über ihm spannte. Blumen, Pflanzen, Paradiesvögel waren da ineinandergewoben, und bevor er nach der beschwerlichen
     Reise auf seinem Bett eindöste, dachte er noch an das Alpenpanorama, das er im kommenden Jahr unbedingt in Angriff nehmen
     wollte, und an Bice, die ihm bald mit den Kindern nachfolgen sollte. Jede Trennung von ihr machte ihm zu schaffen. Doch als
     ihm die Augen zufielen, verwoben sich seine Gedanken wie die

Weitere Kostenlose Bücher