Bildnis eines Mädchens
hätte Andrina nur zu gern keinen Glauben geschenkt. Aber das konnte sie nicht. Denn sie selbst hatte sich schon gefragt,
warum der Signore Segantini sie manchmal heimschickte, während er selbst noch einen Umweg machte.
***
Verstohlen blieb Nika vor den großgerahmten Fotografien stehen, die Fabrizio Bonin im Hotel Kursaal Maloja aufgehängt hatte.
Die Aufnahmen fesselten sie, und immer wieder kehrte sie, wenn keine Gäste zu sehen waren, heimlich dorthin zurück. Die Fotografien
waren nicht farbig, und doch fingen sie Licht und Schatten in unglaublich vielen Schattierungen ein. Die Bilder zeigten Szenen
aus dem Alltagsleben Venedigs, einer Stadt, von der Nika keine Vorstellung hatte. Die Stadt schien aus dem Wasser emporzuwachsen,
Kanäle durchzogen sie wie andernorts Straßen eine Stadt durchziehen. Und es war das Wasser, das mit seinen Spiegelungen den
ungeheuren Reichtum an Licht und Schatten, Bewegung und Ruhe erzeugte. Nika war fasziniert, die Fotografien ähnelten Gemälden,
aber sie schienen lebendiger, gegenwärtiger zu sein, fast so, als müssten sich die Menschen darauf sogleich bewegen, zu sprechen
anfangen, aus dem Bild heraustreten.
»Gefallen Ihnen die Fotografien, Signorina?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Nika drehte sich erschrocken um. Der junge Mann mit den braunen Augen stand direkt hinter ihr. Vorsichtig sah Nika sich nach
allen Seiten um, aber der Gang war leer. »Ja, sie gefallen mir sehr!«, sagte Nika leise und setzte noch leiser hinzu: »Ich
darf nicht mit den Gästen sprechen.«
Fabrizio Bonin schüttelte den Kopf. »Merkwürdige Anweisung«, erwiderte er flüsternd, was Nika zum Lachen brachte, »aber antworten
müssen Sie doch dürfen. Sonst wären Sie eine sehr unhöfliche Hotelangestellte.«
Das Flüstern gab ihrer Unterredung etwas Vertrautes, und sie mussten beide lachen.
»Ich muss zurück«, versetzte Nika hinter vorgehaltener Hand, »aber die Bilder gefallen mir sehr. Sie sind so schön wie Kunstwerke.«
»Die Fotografie ist eine Kunst«, sagte Fabrizio Bonin, »eine neue Kunst mit großer Zukunft und ungeahnten Möglichkeiten. Und
im Gegensatz zur Malerei kann man, wenn man es richtig anstellt, sogar gut davon leben. Sehen Sie, wie großartig hier mit
Licht und Schatten gemalt wird?«
Er deutete auf eine der Fotografien und war versucht, ihre Hand zu nehmen und an die Stelle zu führen, die er meinte, unterließ
es aber.
Nika nickte begeistert. »Und Sie meinen wirklich, Fotografen können von ihrer Kunst leben?«
»Das meine ich nicht nur, das weiß ich. Venedig ist die Stadt der Fotografen. Und die Stadt?«, fragte Fabrizio Bonin, immer
noch flüsternd, als genösse er die Heimlichkeit und Vertrautheit, die in dem verspielten Tuscheln lag. »Gefällt Ihnen auch
die Stadt? Es ist meine Heimatstadt. Ich lebe dort.«
»Ja, auch die Stadt«, antwortete Nika lächelnd. »Aber jetzt muss ich …«
»Gleich, gleich, noch einen Augenblick«, bat er. »Ich muss Ihnen erst noch sagen, wie stolz ich auf meine Stadt bin. Keine
andere ist so lichterfüllt und voller Schatten, fängt so wie sie den Himmel im Spiegel des Wassers ein …«
Nika sah ihn an. »Ich könnte Ihnen ewig zuhören«, flüsterte sie und eilte davon.
»Ich würde Ihnen Venedig gern zeigen«, sagte Fabrizio leise,aber sie hörte ihn schon nicht mehr. Er machte eine Geste, als wolle er ihr nachwinken, und als sie sich rasch umdrehte, bemerkte
sie es und lächelte ihm noch einmal zu.
***
»Ich muss mit dir sprechen«, sagte Segantini, der Nika draußen abfing. »Am besten gehen wir zum See.«
Er ging voraus, ohne ihre Antwort abzuwarten. Die Ruderboote lagen still auf dem Wasser, die ersten Schatten wuchsen in die
Ebene hinein.
»Ich hab nicht viel Zeit«, sagte Nika, »ich muss gleich in den Speisesaal.«
Sie war noch immer ärgerlich auf Segantini, weil sein Gemälde so wenig mit ihr zu tun hatte. Aber es war nicht nur gekränkte
Eitelkeit, die sie umtrieb. Sie verstand die Idee des Bildes nicht, Segantinis Gedanken waren ihr fremd. »Das Bild zeigt ein
Mädchen, das an der Schwelle zum Frausein steht«, hatte er gesagt und ein Ungeheuer dazugemalt. Nika hatte in ihrem Leben
bisher nicht viel Gelegenheit gehabt, eitel zu sein und sich selbstversunken im Spiegel zu betrachten, und so verstand sie
seine Abscheu davor nicht.
»Komm, setz dich hierher zu mir auf die Bank, es ist wichtig«, sagte Segantini. Es schien ihm nicht wohl zu sein, er
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