Bildnis eines Mädchens
würde. Der Graf kennt Venedig sehr gut, und Bonin ist Venezianer. Wenn einer von ihnen meine Vermutungen bestätigen kann,
weißt du, wo du weiterforschen musst.«
Nika lehnte sich vor, legte die Hand auf die Platte des Schreibtisches, schob sie bis zu Robustellis Hand, zögerte und legte
dann ihre Hand auf seine.
»Warum? Warum tun Sie das alles für mich?«, fragte sie leise.
»Ach«, antwortete er und zuckte mit den Achseln.
Sie lächelte ihr Lächeln, das ihn Segantini hatte verstehen lassen, und drückte seine Hand. »Ich danke Ihnen sehr.«
Nika meinte, eine leichte Röte in sein Gesicht steigen zu sehen, aber da zog er schon seine Hand unter der ihren weg, richtete
sich auf, als ermahne er sich, Haltung zu zeigen, und sagte förmlich: »Keine Ursache.«
Der intime Moment war vorbei. Nika stand auf und legte das Plaid auf den Stuhl.
»Darf ich Sie noch etwas fragen, Signore Robustelli?«
»Natürlich.«
Achille räusperte sich und suchte in der Schublade beiläufig nach der Schachtel mit den Emser Pastillen.
»Haben Sie das Medaillon geöffnet?«
»Nein«, antwortete er wahrheitsgemäß.
Sie öffnete das Medaillon, nahm den Zettel heraus und hielt ihn Achille Robustelli entgegen.
»Ich kann nicht lesen, was hier steht. Es sind Buchstaben, die ich nicht kenne. Aber vielleicht können Sie …?«
Er nahm den Zettel, entfaltete ihn, strich ihn glatt. Die Schrift war schon verblasst, das Papier brüchig und angeschmutzt,
doch er sah auf Anhieb, dass der Satz, der dort stand, in Griechisch geschrieben war. »Nein«, er schüttelte den Kopf, »ich
bin nicht so klug und gebildet, wie du meinst. Aber ich sehe, dass es Griechisch ist. Wir sollten den Grafen Primoli fragen.«
Nika wusste, dass sie die Gelegenheit nutzen musste. Und dass es niemanden gab, dem sie eher freie Hand gelassen hätte als
Robustelli. »Ja, fragen Sie ihn. Zeigen Sie ihm auch den Zettel.« Sie stand auf und gab ihm das Medaillon. »Ich bin Ihnen
dankbar. Sehr, sehr dankbar.«
Er war aufgestanden und machte spontan einen Schritt auf sie zu, erstarrte aber mitten in der Bewegung und blieb gleich wieder
stehen.
Sie gab ihm die Hand und hatte für einen Augenblick das Gefühl, als wolle er sie umarmen. Aber er erwiderte nur ihren Händedruck
und begleitete sie zur Tür.
***
Während sich der Ballsaal des Hotel Kursaal durch die Hände zahlreicher Arbeiter in eine venezianische Szenerie verwandelte
und baldachingekrönte Gondeln aufgestellt wurden, in denen die Gäste von als Gondolieri verkleideten Kellnern zu den Klängen
venezianischer Meister bedient werden sollten, eilte Achille Robustelli in die Halle, weil er dort Signore Bonin oder dem
Grafen zu begegnen hoffte. Er hatte Glück, Bonin saß bei einem Kaffee und las die Zeitung. Er nickte grüßend zu Robustelli
herüber, und dieser nutzte die Gelegenheit. »Signore Bonin!«, sagte er, »wie gut, dass ich Sie sehe. Ich weiß, Sie reisen
morgen ab.«
Bonin ließ die Zeitung sinken. »Das ist wahr. Ich begleite den Grafen noch nach Paris und fahre dann nach Venedig zurück.
Aber ich finde es eigentlich schade, schon abreisen zu müssen. Es hat mir sehr gut hier gefallen.«
Achille lächelte. »Signore Bonin, bevor es so weit ist, habe ich eine Bitte. Darf ich Ihnen rasch etwas zeigen? Sie sind Venezianer,
und ich meine mich zu erinnern …« Er zog das goldene Medaillon aus der Westentasche und hielt es Fabrizio hin. »Ich bilde mir ein, dass ich diese Rose schon
auf einem venezianischen Familienwappen gesehen habe.«
Fabrizio nahm das Medaillon in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. In diesem Moment trat Primoli zu ihnen, der nach
Bonin Ausschau gehalten hatte, und sah Fabrizio neugierig über die Schulter. Und es war der Graf, der ohne lange nachzudenken
sagte: »Aber ja, das ist die gefüllte Damaszenerrose mit dem Rubin, das Wappen der Familie Damaskinos. Eine alte, wohlhabende
Familie griechischer Abstammung in Venedig.«
Fabrizio nickte zustimmend, und Primoli, der viele Verbindungen zu den führenden Familien Venedigs hatte, fuhr fort: »Es gibt
eine richtige griechische Kolonie in der Stadt, reiche Kaufleute und Buchdrucker. Die venezianischen Griechenleben in einem eigenen Viertel, nahe San Marco, haben eine eigene Scuola für wohltätige Zwecke und eine eigene Kirche, die
Chiesa dei Greci.«
Fabrizio gab Signore Robustelli das Medaillon zurück.
»Der Graf hat recht. Die Griechen in Venedig haben Geld
Weitere Kostenlose Bücher