Bildnis eines Mädchens
die ihnen bettelnd kleine Sträuße
von Edelweiß und Alpenrosen hinhielten. Edward gab der ersten Kleinen eine Münze und verehrte Betsy das Sträußchen, das sie
strahlend an ihren Gürtel steckte. Seit Langem hatte ihr kein Mann mehr Blumen geschenkt, rote Rosen schon gar nicht, auch
wenn das hier nur Alpenrosen waren.
»Die Steinböcke haben die Touristen schon alle abgeschossen«, bemerkte der Führer, als sei damit ausgeglichen, dass die Einheimischen
überall die schönsten Alpenblumen abrissen.
Die Grasdecke wurde dünner, silbriggrüner Granit leuchtete ihnen entgegen, rotbraun oxidierte Felsen, und noch immer gab es
einzelne Enziane, die so intensiv in ihrem leuchtenden Blau hervorstachen, dass man staunend stehen blieb.
Der Lej dal Lunghin, in dem sich die darüberliegenden Schotterquellen sammelten, enttäuschte Betsy. Das Wasser war wunderbar
klar und blau, aber es spiegelten sich darin nur nackte Felsen. Der junge Inn, der in leichten, sprühenden Kaskaden den Berg
hinabrieselte, hatte ihr besser gefallen als der einsame Quellsee hier oben, sie vermisste Gras und Bäume und bat Edward,
das Picknick weiter unten einzunehmen.
Der Führer war enttäuscht. Nicht bis zum Punkt der Wasserscheide und bis zum Piz Lunghin aufzusteigen, bedeutete ein Aufgeben
kurz vor dem Ziel. Die Erklärung, dass von diesem Punkt aus ein Tropfen Wasser in drei Meere getragen werden kann, je nachdem,
in welche Richtung er abfließt – über den Inn ins Schwarze Meer, über Comer See und Po in die Adria oder in Richtung Norden
über den Rhein in die Nordsee –, war der Höhepunkt seiner Führung, und er hoffte nun auf Edwards mannhaften Ehrgeiz.
Doch dieser fühlte sich in diesem Moment Betsy um vieles näher. Er liebte die Pflanzenwelt – hier aber war die Natur karg
und abweisend. Sie erinnerte ihn daran, wie unbedeutend er sich seit seiner Enttäuschung mit Emily manchmal fühlte. Allerdings
nahm sich vor dieser gewaltigen Kulisse jeder Mensch unbedeutend aus. Wie Betsy hatte er den Wunsch, schnell wieder hinabzugelangen
an einen Platz, an dem man sich im Gras ausstrecken konnte.
Der Führer hielt fest, dass auch bei vorzeitiger Umkehr die volle Summe zu entrichten sei, gab dem Maulesel einenunwirschen Klaps auf den Hintern und begann mit dem Abstieg.
Betsy lächelte Edward zu. Sie verstanden sich ohne viele Worte.
Eigentlich hatte Betsy sich für abenteuerlicher und verwegener gehalten. Von unten betrachtet, war ihr kein Gipfel zu hoch
erschienen, jetzt aber war sie sehr zufrieden, auf dem von dem braven Maulesel mitgetragenen Klappstuhl Platz zu nehmen und
kalten Braten mit sauren Gurken zu genießen, während sich Edward auf der Picknickdecke ausstreckte und den Hut ins Gesicht
zog.
»Dort kommt Segantini, der Maler«, sagte der Bergführer in die dösige Mittagsstimmung hinein und deutete auf einen Mann und
eine junge Frau, die sich schnell näherten. Es waren Segantini und die Baba, die zum Mittagessen nach Hause zurückkehrten.
Edward sprang wie elektrisiert auf die Füße, als er den Namen hörte.
»Dürfen wir den Meister begrüßen?«, fragte er Caviezel. Der nickte und rief auch schon: »Signore Segantini, guten Tag!«
Segantini blieb stehen. »Warst du mit den Herrschaften auf dem Piz Lunghin? Schöner Tag heute!« Er nickte anerkennend zu Betsy
und Edward herüber.
»Es ist mir eine Ehre«, sagte Edward und stellte sich und Betsy vor, aber Segantini, der nur Italienisch sprach, ließ sich
das Ganze noch einmal von Betsy wiederholen. Er sei ein Freund von James Danby, ließ Edward übersetzen, einem in England lebenden
Reporter, der schon bei Segantini vorstellig geworden sei. Segantini erinnerte sich, ja, er habe schon einen ersten Termin
mit dem Herrn im Hotel Kursaal vereinbart.
»Ich male fast ausschließlich draußen, nicht im Atelier. Ihr Freund müsste mich vielleicht einen Tag zu meinen Bildern begleiten.
Aber kommen Sie doch mit Ihrem Freund zueinem kleinen Abendessen zu uns in den nächsten Tagen«, schlug er vor und fügte hinzu: »Selbstverständlich würde ich mich
freuen, wenn auch Sie dabei wären, Signora.«
Betsy zögerte eine Sekunde. Ob ihre Nichte vielleicht auch mitkommen dürfe? Sie wolle nicht unverschämt sein, aber Mathilde
diese großartige Gelegenheit nicht vorenthalten …
Segantini stimmte zu. Der Bergführer sah ihm bewundernd nach.
»Alle Welt will ihn kennenlernen und besuchen. Es ist geradezu Mode geworden,
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