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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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herein.
    »Ja«, sagte Mathilde. Benommen von Schlaf und Traum sah sie sich im Zimmer um. Richtig, in der Klinik von Dr.   Bernhard war sie, unter Obhut der Schwestern. Das war gut. »Ja«, wiederholte sie und versuchte zu lächeln, »es war nur ein
     Traum, der mich verwirrt hat.«
     
    Die Schwester hatte Mathilde gerade erst auf dem Balkon in ihre Decken eingewickelt, als sie schon wieder erschien und einen
     Besucher mitbrachte.
    »Guten Morgen, Mathilde. Darf ich stören?« Die Schwester schloss leise die Balkontür hinter James. »Sie sehen erschrocken
     aus«, James war verlegen, »ist es Ihnen nicht recht, mich zu sehen? Ich habe Ihnen ein paar Blumen mitgebracht   …« Er hielt ihr einen bunt gemischten Rosenstrauß entgegen.
    Mathilde sagte noch immer nichts, Tränen stiegen ihr in die Augen.
    »Aber Mathilde, nicht weinen«, bat er, »finden Sie, ich hätte eher kommen müssen? Gar nicht kommen sollen? Wäre besser abgereist?«
     Er ergriff ihre Hand und küsste sie. Dann drehte er ihre Handfläche nach außen und legte einen leuchtend blauen Schmetterling
     hinein. »Den haben Sie bei mir verloren«, sagte er, und schloss ihre Finger um den Schmetterling. Da begann Mathilde wirklich
     zu weinen.
    »Das alles hätte nicht sein dürfen«, brachte sie unter Schluchzen hervor.
    »Nun, Sie waren so hübsch«, sagte er, »und wollten geküsst werden   …«
    »Nicht, nicht! Sagen Sie nichts. Ich weiß alles selber, Sie müssen es mir nicht vorhalten. Und am Ende ist es sogar meine
     Schuld. Aber ich kann Sie nicht mehr sehen, das ist Ihnen hoffentlich klar.«
    »Aber ich wollte Ihnen sagen   …«, warf er vorsichtig ein.
    »Nichts sollen Sie mir sagen. Sie sollen nur gehen und mich in Ruhe lassen. Und schweigen wie ein Grab. Haben Sie verstanden?«
     
    Als James den Flur der Klinik hinunterging, vergaß er, auf den septischen Geruch zu achten, der von den frisch gescheuerten
     Böden ausging. Für einmal fand er – und es war kein vertrautesGefühl   –, dass er etwas nicht hätte tun sollen, was er getan hatte.
    ***
    »Komm nur herein!«, rief Achille Robustelli erfreut. Er war guter Laune, das Sommergeschäft florierte, es ließ sich absehen,
     dass die Saison sich finanziell auszahlen würde, und die Beschwerden über das Personal und die Krankheitsfälle hielten sich
     in Grenzen. Alles lief wie am Schnürchen, nur die Leere in seiner Herzgegend war geblieben und wurde auch nicht wettgemacht
     von dem Gefühl der Befriedigung, das die Arbeit ihm gab. Der rechte Moment, sich Andrina zuzuwenden, die eben angeklopft und
     fragend den Kopf hereingestreckt hatte.
    »Und, wie gefällt es deinem Bruder bei der Eisenbahn?«, fragte er und bedeutete ihr, vor seinem breiten Schreibtisch Platz
     zu nehmen.
    »Luca? Es geht ihm gut. Er hat uns eine Postkarte geschickt, und ich soll Sie grüßen. Die ganze Familie ist Ihnen dankbar«,
     log Andrina.
    »Das ist nun nicht nötig«, erwiderte Achille, der weniger eitel war, als Andrina vermutete. »So viel ich mitbekommen habe,
     ist deine Mutter nicht gerade glücklich darüber und nicht gut auf mich zu sprechen. Aber es ist schön, wenn ich dir und Luca
     damit einen Gefallen tun konnte, denn   …«, er drehte einmal, zweimal an seinem Siegelring, »du hast sicher schon bemerkt, das mir an dir liegt.«
    Er hatte lange überlegt, ob er Andrina für den kommenden Samstag zum Tanzen nach St. Moritz einladen sollte. Für ein paar
     Stunden würde die Gouvernante sie schon freigeben, er tat Signora Capadrutt schließlich auch hier und da einen Gefallen.
    Außerdem hatte er beschlossen, seine Mutter diesmal so lange wie möglich außen vor zu lassen, weil sie an Andrina ebenso viel
     zu bemängeln finden würde wie an allen anderen Frauen, die ihm bisher gefallen hatten. Warum war er eigentlich nicht eher
     darauf gekommen, dass er ihr am besten gar nichts erzählte, was Frauen, Heiratsabsichten und seine ganz persönliche Zukunft
     anging? Darüber hatte er nachgegrübelt und war zu dem Schluss gekommen, dass die blitzartige Erkenntnis, dass er seiner Mutter
     nicht alles und schon gar nichts über Andrina mitteilen musste, und die Tatsache, dass er nicht früher darauf gekommen war,
     geradezu bewiesen, dass Andrina die Richtige war. Alle anderen Mädchen hatte er seiner Mutter offenen Auges zum Fraß vorgeworfen.
     Aber diesmal würde er seinen Schatz besser hüten – weil er ihn behalten wollte.
    Andrina wartete geduldig, wie es sonst nicht ihre Art war, bis

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