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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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das elegante Faltdach, das Segantini nicht hatte zurückschlagen lassen.
     Sie saßen dicht nebeneinander, rechts vor ihnen glitzerten die Seen in der Sonne, aber ihre Gesichter lagen im Schatten. Nika
     hatte die Ärmel ihrer Bluse hochgekrempelt, unter dem Weiß sahen ihre schlanken braunen Arme hervor. Ab und zu berührte seine
     Jacke ihre Haut, aber das kam durch die leichte, schaukelnde Bewegung des Wagens, der dahinflog, viel zu schnell.
    »Ich liebe Sie«, sagte Nika plötzlich, ohne Segantini anzusehen.
    Es war, als wären die Worte auf den Boden der Victoriaund von dort auf die Straße gefallen, einfach aus ihrem Mund auf den Boden und dann weiter hinuntergekullert wie Kieselsteine.
     Und jetzt blieben sie irgendwo unbeachtet liegen, weil er sie nicht aufgefangen, nicht die Hand danach ausgestreckt hatte.
    »Was hast du gesagt?« Segantini drehte sich ihr zu und sah ihr ins Gesicht.
    »Nichts«, erwiderte sie.
    »Du hast doch etwas gesagt.«
    »Ich will es nicht zweimal sagen.«
    Er schwieg. »Ich sage das, was mir wichtig ist, immer wieder«, bemerkte er schließlich. »Immer wieder male ich diese Landschaft,
     Berge, Schafe, Kühe, Menschen, die arbeiten und ruhen. Immer wieder male ich das Licht nach dem Sonnenuntergang. Die Stille.
     Den Tod. Die Liebe.«
    Nika antwortete nicht. Sie sah die Worte, die sie ausgesprochen hatte, wie kleine graue Murmeln auf der Straße liegen, irgendwo
     zwischen Maloja und St. Moritz, ganz ohne Bedeutung, ohne jeden Wert.
    »Ich male die Liebe, die in allem ist«, fuhr er fort, »das ist die Aufgabe der Kunst. In der Schönheit jeder kleinen Blume
     ist sie, die Liebe, die uns umgibt.«
    Die kleine alte Kirche San Lurench glitt an ihnen vorbei, sie passierten Sils-Baselgia.
    »Ich bin früh ein Waisenkind gewesen«, begann er. »Ein kleiner Junge, der spürt, dass seine Mutter krank ist und ihn bald
     verlassen wird, ganz gleich, wie sehr er sie liebt. Schon als sie noch lebte, war sie eigentlich nicht mehr richtig da. Ich
     habe sie getötet, weil ich geboren wurde. Sie hat sich nie von meiner Geburt erholt. Mein älterer Bruder ist bei einem Brand
     ums Leben gekommen, kaum drei Jahre alt, auch das mag zu ihrem Zustand beigetragen haben. Mein Vater war selten zu Hause.
     Ich habe ihn kaum gekannt. Nur die Armutwar allgegenwärtig. Als meine Mutter starb, brachte er mich nach Mailand zu seiner Tochter aus erster Ehe, Irene. Ich verlor
     nicht nur meine Mutter, ich verlor auch die Umgebung, in der ich aufgewachsen war. Das Städtchen Arco, den Fluss, in dem ich
     einmal fast ertrunken wäre, die Berge, den Himmel. Mailand hat mir nie gefallen.«
    Darum also, dachte Nika. Darum kümmert er sich um mich. Weil er kennt, was ich kenne. Weil ich weiß, was er fühlt.
    »Irene führte ihrem Bruder Napoleone den Haushalt«, fuhr Segantini fort, »aber seine kleine Drogerie lief nicht gut, die beiden
     waren selbst Fremde in Mailand und fanden nirgendwo Unterstützung. Der Laden wurde geschlossen, die Möbel verkauft, mein Vater
     ging mit Napoleone fort.«
    Segantini räusperte sich, zog seine Hand aber nicht fort, als Nikas Hand nach seiner suchte und sie festhielt. Ihr Griff war
     fest und ohne falschen Trost, und er sprach weiter in das schattige, vom Dach der Kutsche gedämpfte Licht hinein, das draußen
     gleißende, zitternde Lichter auf das Wasser setzte.
    »Ich blieb bei Irene, die ich hasste. Sie hat meine Gefühle durchaus erwidert. Sie war mager, bitter, ohne Verständnis für
     ein kleines Kind.«
    Nika drückte schweigend seine Hand, die so groß war, dass sie sie kaum umfassen konnte.
    Segantini räusperte sich noch einmal. »Ich habe meinen Vater nie wiedergesehen.«
    Er spürte den kräftigen, beinahe männlichen Druck ihrer Hand. Dann zog er seine Hand zurück und beugte sich vor, um zu sehen,
     wo sie waren. Sie fuhren eben durch Silvaplana, von links her mündete eine Straße ein, die von den Bergen herunterkam.
    »Von hier bin ich gekommen«, sagte Nika und zeigte darauf. »Über den Julier.«
    Er nickte abwesend. Er hatte seine Eltern wenigstens gekannt. Ob das besser oder schlechter war, mochte er nicht beurteilen.
     »War der Bauer, bei dem du in Mulegns aufgewachsen bist, gut zu dir? Besser als Irene zu mir?«
    »Nein«, sagte Nika.
    Da wusste er nichts mehr zu sagen.
    Sie ließen Champfèr hinter sich und näherten sich schon bald den ersten Häusern von St. Moritz Bad.
    »Gleich sind wir da«, Segantini nahm Nika am Arm und zog sie nach vorn. »Schau,

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