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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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hier sind die Bäder und die großen Bäder-Hotels   … das Kurhaus, das Victoria   … das Stahlbad   … Aber wir fahren ins Dorf hinauf. Siehst du, hier gibt es sogar eine Straßenbahn. Hast du schon mal eine Straßenbahn gesehen?«
    »Nein«, lächelte Nika. »Das ist eine Straßenbahn? Auf Schienen? Wie eine Eisenbahn?«
    »Und oben im Dorf eröffnen sie nächste Woche ein neues Grandhotel, das Palace, nahe beim Haus meines Freundes Peter Robert
     Berry. Wir fahren gleich daran vorbei.« Er rief dem Kutscher zu, er solle schnell halten und das Verdeck herunterklappen,
     damit sie mehr sähen.
    Nika staunte. Das Palace war gewaltig. Anders als das Hotel Kursaal Maloja sah es aus wie eine riesige Burg mit Wehrturm und
     Zinnen. Überhaupt war dies eine unbegreifliche Welt: die Straßenbahn, die edlen Kaleschen, die vielen eleganten Menschen.
     Auch in Maloja stiegen vornehme Gäste ab, aber das Dorf war geblieben, wie es war: Es gab keine Bäder, keine feinen Läden
     und keine Ansammlung von Luxushotels wie hier. Die Gäste des Kursaals Maloja fuhren mit dem Pferdeomnibus nach St. Moritz,
     wenn sie kuren, auswärts speisen, einkaufen oder an Soireen teilnehmen wollten.
    Segantini ließ anhalten und sprang aus dem Wagen.
    »Warte hier auf mich«, sagte er, »es ist besser, wenn du nichtallein im Ort herumspazierst. Setz dich zu dem Kutscher auf den Bock, von dort aus kannst du das Treiben hier beobachten.«
    Sie nickte verloren und sah ihn davoneilen. Er war wie sie. Und doch auch wieder nicht.
    Wenig später kam er zurück und brachte ihr Gebäck, das in Papier geschlagen war.
    »Von der Bäckerei Hanselmann«, sagte er, »das wird dir schmecken.«
    »Danke«, sagte sie, völlig überrascht. Es war das erste Mal, dass ihr jemand etwas Süßes kaufte.
    »Damit dir das Warten nicht so lang wird«, erklärte Segantini.
    Nika sah ihm nach. Sie brach ein Stück von dem Kuchen ab und steckte es in den Mund. Die ungewohnte Süße breitete sich in
     ihrem ganzen Körper aus, das Leben nahm einen neuen, überwältigenden Geschmack an. Sie nahm noch einmal von dem Kuchen, wickelte
     dann den Rest in das Papier, um ihn für später aufzuheben, packte den Kuchen wieder aus, bot dem Kutscher ein Stück an und
     steckte den übrig gebliebenen Brocken in den Mund. Der Kuchen würde nur trocken werden, wenn sie ihn nicht jetzt aß.
    Jetzt schmeckt er am besten, dachte sie, jetzt, in diesem Augenblick, in dem ich seine dunklen Haare noch in der Menge ausmachen
     kann und weiß, er kommt wieder.
    »Hast du schon mal mit Pferden zu tun gehabt?«, fragte der Kutscher Nika.
    »Im Dorf«, erwiderte sie, »beim Bauern.«
    »Könntest du dann einen Moment hier allein bleiben?«, der Kutscher war schon halb vom Bock. »Ich muss mal pinkeln, und wenn
     du nichts dagegen hast, könnte ich schnell ein Bier trinken, es ist heiß, und ich habe heute noch keine Pause gemacht.«
    Sie nickte.
    Die Pferde hatten den Futtersack umhängen und standen ruhig. Hier und da verlagerten sie das Gewicht von einem Bein auf das
     andere, und dann ging eine leichte Bewegung durch den Wagen. Nika sah den Passanten zu. Sie biss sich auf die Lippen. Warum
     hatte sie ihr Notizheft nicht dabei. Die Pferde, von der ungewöhnlichen Perspektive des Kutschbocks aus, die Häuser, die flanierenden
     Menschen – all das hätte sie skizzieren können.
    Aber sie hatte sich ja geschworen, nicht mehr zu zeichnen. Alles zu lassen, was mit Segantini zusammenhing. Dabei wusste sie,
     dass ihr Strich sicherer, ihr Blick genauer geworden war. Segantini war ein guter Lehrer.
    Ob es ihm wohl auch so geht, dachte sie, dass all seine Einsamkeit, alle Not verschwindet, wenn er ganz genau hinsieht? Wenn
     er malt? Anders als die Süße, die auf ihrer Zunge explodiert war, als sie den Kuchen aß, stieg das Glück, das sie beim Zeichnen
     erfüllte, langsam und fast unmerklich aus der Tiefe auf. Was sie sah und dann mit dem Stift festzuhalten versuchte, verdrängte
     mit jedem Augenblick mehr alles andere, was sie fühlte – ihre Einsamkeit, ihre Verlorenheit in der Welt, ihre Sehnsucht nach
     Zärtlichkeit und Geborgenheit, ja selbst die Gedanken an Segantini, der ihr diese neue Welt eröffnet hatte. Sie vergaß alles,
     auch sich selbst, und das erleichterte und erlöste sie, als hätte sie Schwingen und wäre ein Vogel, der alles zurücklassen
     konnte und sich vom Wind hinwegtragen ließ an neue, unbekannte Orte.
     
    »Eine schöne Kutscherin haben Sie da, Segantini«, rief

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