Bildnis eines Mädchens
riesigen Hallen, die Rittersälen glichen. Kaminfeuer prasselten in den holzgetäfelten oder mit Stuck verkleideten Sälen,
obwohl das Hotel selbstverständlich eine Zentralheizung besaß. Die Lifte waren per Schiff aus New York gekommen, die Möbel
aus Berlin. Kristalllüster und Messingleuchter tauchten den Speisesaal, die Hallen, Damenzimmer, den Rauchsalon, die Bibliothek
und das Billardzimmer in festliches Licht, und an diesem feierlichen Eröffnungsabend floss Jahrgang-Champagner in die böhmischen
Kristallgläser, bog sich das Buffet unter den kalten und warmen Köstlichkeiten.
»Finden Sie nicht, dass wir etwas von Zaungästen haben unter all diesen Maharadschas, Prinzessinnen, Fürsten und Stahlbaronen«,
fragte Betsy, die ein schlichtes, aber sehr elegantes amethystfarbenes Abendkleid trug, das sie mit der Post aus Zürich hatte
kommen lassen. Ihr Collier, bescheidener als viele der zur Schau gestellten Diamanten, stach mühelos die meisten Kreationen
aus, weil es mit exzellentem Geschmack ausgesucht war.
»Ganz und gar nicht«, antwortete James unbekümmert, der am wenigsten Geld von den dreien besaß und sich geschickt mit seinem
Rheinlachs und dem Champagnerglas durch die Menge schob. »Kommen Sie«, sagte er, »ich habe Segantini und seine Frau entdeckt.
Sagen wir guten Abend.«
Betsy, die sich an ihre voreilige Bemerkung im Hause Segantini erinnerte, fand das keine gute Idee. Überhaupt hielt sie, von
Kate mit Misstrauen geimpft, Abstand zu James, worüber sich James, arglos wie er war, wunderte. Er versuchte, durchdie Menge zu Segantini vorzudringen, Betsy hingegen hängte sich bei Edward ein und zog ihn in eine andere Richtung.
Noch ehe James bei Segantini angelangt war, stieß er auf Fabrizio Bonin. Dieser stellte seinen neuen Bekannten dem Grafen
Primoli vor. Sie waren bald in ein Gespräch vertieft, das sich nur anfänglich um Segantini drehte und sich schnell der neuen
Kunst der Fotografie zuwandte, von der jeder von ihnen etwas, Primoli aber am meisten verstand.
***
»Tilda«, sagte Betsy, »jetzt ist nichts mehr zu machen. Deine Mutter kommt, und sie bringt nicht deine Tante Frieda mit, sondern
deinen Verlobten Adrian. Ich konnte sie wirklich nicht länger zurückhalten. Schließlich ist sie deine Mutter.« Ihr Ton wurde
immer dann etwas strenger als gewöhnlich, wenn sie sich hilflos fühlte.
Mathilde verzog das Gesicht.
»Wirklich, Tilda! Deine Mutter macht sich Sorgen um dich, um deine Verlobung, und das ist sehr gut zu verstehen. Also mach
dich darauf gefasst, dass die beiden morgen hier eintreffen.«
Betsy hielt, erschöpft von der Anstrengung, jedes Ausweichmanöver ihrer Nichte von vornherein zu vereiteln, inne und griff
nach Mathildes Weinglas. Sie hatten zusammen zu Mittag gegessen, und zu Mathildes Diät gehörte der gute Veltliner, dem man
eine besondere Heilkraft nachsagte. »Er ist nicht zu stark, hat wenig Säure und ist sogar bei Magenkatarrh verträglich«, hatte
Dr. Bernhard erklärt. »Der Rotwein regt die Herztätigkeit an und befördert den Auswurf, und darum, mein liebes Fräulein Schobinger,
dürfen Sie nicht nur, sondern sollen Sie ein paar Gläschen am Tag trinken.«
Jetzt aber versprach sich vor allem Betsy eine unterstützendeWirkung vom gepriesenen Roten, da sie ihrer Nichte spätestens in diesem Moment beichten musste, ihr ein Telegramm von Adrian
vorenthalten zu haben. Es war gleich nach der Diagnose eingetroffen, und Betsy hatte Mathilde nach dem Schock und auch wegen
ihrer aufgewühlten Gefühle James gegenüber schonen wollen.
»Aber morgen kommt mich Edward besuchen!«, rief Mathilde fast verzweifelt aus.
Betsy schaute verständnislos. »Und? Wenn James käme, würde ich deine Aufregung verstehen, aber Edward … Dann bekommst du morgen eben zweimal Besuch. Ich kann Edward gern ausrichten lassen, er möchte dich am Morgen besuchen,
denn deine Mutter und Adrian werden erst am Abend eintreffen. Wie steht es übrigens mit James?«
Mathilde gab einen undefinierbaren Laut zwischen Ärger, Enttäuschung und Traurigkeit von sich. »Ich sehe ihn nicht mehr.«
»Ah!«, meinte Betsy. »Das macht das, was ich dir noch sagen muss, vielleicht einfacher. Ich habe dir ein Telegramm vorenthalten,
das Adrian dir geschickt hat, kurz nachdem du in die Klinik kamst.«
»Was?«, rief Mathilde empört aus, »du hast es mir einfach nicht gegeben? Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr!«
»Nein. Aber du warst
Weitere Kostenlose Bücher