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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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wollte sie ganz woanders hin, aber da sie
     offenbar kein Geld und kein Zuhause hat, ist sie hiergeblieben. Mehr kann ich Ihnen nicht berichten.«
    Robustelli klappte energisch das Zigarettenetui zu.
    Bonin nickte, überrascht von dem kratzbürstigen Ton des ansonsten so liebenswürdigen Robustelli. »Danke trotzdem«, sagte er,
     »es war doch eine ganze Menge, was Sie mir erzählen konnten. Und verzeihen Sie, dass ich so neugierig war.«
     
    Achille Robustelli wandte sich wieder der Arbeit zu. Andrina hatte versprochen, nach ihrem Dienst vorbeizukommen. Er musste
     sie einmal näher zu Nika befragen, die ja schließlich bei Andrinas Eltern lebte. Dass sich nun auch der junge Bonin für sie
     interessierte   … Das wurde ja immer besser. Konnte sich denn nicht ein ganz normaler Mann in sie verlieben, ein Koch, ein Kutscher, ein Kellner,
     der Nika eine ruhige und sichere Zukunft geben konnte?

La Vanità
    »Ich habe den Ort gefunden«, sagte Segantini euphorisch.
    »Welchen Ort?«, fragte Nika.
    »Die Quelle. Den Ort. Die Umgebung für das Bild, zu dem du mich inspiriert hast. Komm, ich zeige ihn dir.«
    »Kommen Sie am Mittag. Jetzt arbeite ich.«
    Seine Stirn verdüsterte sich. »Am Mittag bin ich zu Hause.«
    »Dann nicht«, antwortete sie.
     
    Er suchte immer lange, bis er den Ort gefunden hatte, der zu seiner inneren Vorstellung passte. Seit er gesehen hatte, wie
     Nika sich im Wasser des Silser Sees bespiegelte, hatte der Gedanke an dieses Bild ihn verfolgt. Jetzt hatte er den Rahmen
     dafür gefunden.
     
    Nika ging schweigend neben ihm her. Es war der Weg zum Belvedere hinauf, den Segantini einschlug. Auf der Erhebung über der
     Passhöhe, wo der Graf de Renesse ein Schloss im mittelalterlichen Stil für sich hatte errichten lassen wollen, wurde wieder
     gearbeitet. Der Turm sollte nun endlich fertiggestellt und das Seitengebäude zu einem Hotel ausgebaut werden.
    Der Weg schlängelte sich zwischen Bergföhren und Alpenrosen hindurch. Nika ging auf der schattigen, Segantini auf der sonnenbeschienenen
     Seite des Weges. Dann verließ Segantini den Pfad, der sich nach links zum Turm hinaufwand, und ging stattdessen geradeaus
     weiter in den Wald hinein. Nika folgteihm über Wurzelwerk, Moos, tote Äste. Felsbrocken versperrten den Weg, Bergföhren dufteten harzig. In der Ferne hörte man
     das Tosen herabstürzenden Wassers, ein helles Lärmen. Die Alpenrosen waren fast verblüht, ihr dunkelgrünes Buschwerk kroch
     über den Boden und verdrängte andere Pflanzen, doch an einigen Stellen glimmte das prächtige Rot noch auf.
    »Wohin gehen wir?«, fragte Nika. »Der Wald wird immer dichter und wilder.«
    »Gleich«, rief Segantini zurück, ohne den Schritt zu verlangsamen, »wir sind gleich da.«
    Sie waren nicht weit vom Belvedere entfernt, und doch war es, als tauchten sie in eine Welt ein, die noch nie ein lebendiges
     Wesen betreten hatte. Kein Vogel war zu hören, die Schwüle des Mittags lastete auf der Landschaft. Plötzlich blieb Segantini
     stehen.
    »Wir sind da.«
    Auch ihm war heiß geworden, er zog Jacke und Weste aus, stand im weißen Hemd vor ihr und fuhr sich durch die feuchten Locken.
     Sein dunkler Blick sah Nika kaum, er war begeistert von diesem seltsamen Ort, den vor Urzeiten die Gletschermassen des Bernina
     geschaffen hatten, als die Eiszeit ihrem Ende zuging. Die tauenden Eismassen hatten sich nach Westen gewälzt, schufen das
     Engadin, schoben Geröll und Steine vor sich her, die, wo sie Spalten fanden, absanken, sich durch die malmende Kraft des Tauwassers
     und des Eises ins Gestein fraßen und tiefe, runde Schächte frästen, in denen das Wasser stehen blieb.
    »Le marmitte dei giganti«, sagte er, »schau dir das an, die Gletschermühlen. Schau dir das an.«
    Nika trat näher, er fasste ihre Hand, und sie beugte sich über den tiefen Brunnen.
    »Komm«, sagte er und zog sie weiter, »es gibt mehrere davon,ich habe eine andere für das Bild ausgesucht.« Er kannte hier jede Stelle, jeden Stein.
    Er hielt sie noch immer an der Hand, sein weißes Hemd leuchtete, seine Gestalt war kräftig, stark.
    Nika schloss die Augen. Warum war das so? Warum liebte sie ihn?
    Segantini zog sie, voller Freude, endlich den Ort für sein Bild gefunden zu haben, an sich, ließ sie aber, als er ihren Körper
     an seinem spürte, gleich wieder los.
    Nika schauderte, als sie in das Wasserloch blickte, dessen morastiges Wasser bis tief ins Innere der Erde zu reichen schien.
     Das Loch war umsäumt von

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