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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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Was fühlte er für Mathilde?
    »Ich empfinde mehr für Sie, als Sie glauben. Und mehr, als Edward oder Ihre Tante sich vorstellen können. Ja, ich habe mit
     Ihnen geflirtet, wie man so flirtet, ich flirte gern, ich bin leichtsinnig, ich weiche großen Gefühlen lieber aus. Kate hat
     mich auf Sie aufmerksam gemacht, mich angestachelt. Ohne Kate wären Sie mir vielleicht nicht einmal aufgefallen, um ehrlich
     zu sein. Aber je öfter wir uns gesehen haben, umso besser haben Sie mir wirklich gefallen.«
    Er hatte vorsichtig ihre Hand genommen, aber sie bekam einen Hustenanfall, der sie so heftig schüttelte, dass er erschreckt
     ihre Hand losließ.
    »Ein Glas Wasser!«, keuchte sie und rang nach Luft. James hielt ihr hilflos das Glas hin und wartete, bis sie sich beruhigt
     hatte.
    »Krankenhäuser sind nichts für mich«, murmelte er. »Sie machen mich hilflos, unfähig.« Er stand auf und ging zum Fenster.
     »Sie sind verlobt. Und fragen mich, ob ich Sie liebe. Das heißt, eigentlich fragen Sie sich, ob ich vielleicht der Richtige
     für Sie wäre. Richtiger als Ihr Verlobter. Und diese Frage kann ich nicht beantworten.« Er wich aus, schämte sich für seine
     Feigheit und konnte doch nicht anders.
    »Als Sie mit mir in die Pension Veraguth kamen, dachte ich schon gar nicht darüber nach, ob ich richtig oder falsch für Sie
     bin. Ich begehrte Sie, und deshalb bedrängte ich Sie, sich von mir fotografieren zu lassen. Es war nicht das erste Mal, dass
     ich einen nackten weiblichen Körper sah, und auch nicht das erste Mal, dass ich ein Aktfoto machte. Ich dachte nicht, dass
     das etwas so ungeheuer Anstößiges wäre.«
    Mathilde sah ihn an.
    »Ich bin aber kein Modell«, sagte sie ruhig. »Ich bin mit Ihnen gekommen   …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende.
    »Ich hätte«, sagte James, »daran denken müssen, dass Sie kein Modell und noch sehr jung und aus gutem Haus sind. Und ich hätte
     Kates Einflüsterungen widerstehen müssen, kurz   …«
    »Es tut nichts mehr zur Sache«, sagte Mathilde. »Sie haben mich nicht gezwungen mitzukommen. Sie haben mich auch nicht gezwungen,
     mich fotografieren zu lassen. Jetzt ist sowieso alles anders. Ich bin krank. Ich werde noch ziemlich lange krank sein, auch
     wenn Dr.   Bernhard glaubt, dass ich gesund werden kann. Aber wer weiß das schon? Meistens stirbt man an der Krankheit, die ich habe.«
    James bewunderte sie und schämte sich mit jedem Augenblick mehr. Sie war so viel jünger als er und so viel reifer. Die Krankheit
     hatte sie verändert. Und er, der Kranke nach Möglichkeit mied, spürte, dass er sie jetzt viel mehr begehrte als zuvor und
     weniger denn je für sie gemacht war.
    »Ich bin nur ein Junge«, sagte er, »immer auf der Suche   … oder auf der Flucht   … Flucht oder Flirt. Es kommt auf das Gleiche heraus. Werden Sie morgen Ihren Verlobten sehen?«
    »Ja«, antwortete Mathilde.
    ***
    »Mathilde, aber Sie weinen ja!«
    Edward wagte nicht, sich zu setzen, und Mathilde vergaß, ihn dazu aufzufordern.
    »Setzen Sie sich nur«, sagte die alte Schwester, die ihn hereingeführt hatte, »ich weiß, dass sie sich immer sehr auf Ihren
     Besuch freut.«
    Er setzte sich auf einen Stuhl neben Mathildes Bett und schwieg.
    Seine Anwesenheit schien ihr Weinen zu verstärken. Die Tränen flossen und flossen, und Edward fragte sich, wo soviele Tränen so schnell herkamen. Es war wohl besser ab-zuwarten, bis der Fluss von selbst versiegte. Als aber ihr Schluchzen
     immer heftiger wurde und ihr fast die Kehle zerriss, zog er seinen Stuhl ganz nahe an das Bett und nahm ihre Hand.
    Sie hielt seine Hand fest, wandte aber ihr Gesicht der Wand zu. Langsam verebbte das Weinen, es wurde ganz still im Raum,
     und so blieb es, bis die Schwester das Zimmer betrat und sagte: »Fräulein Schobinger   … Mathilde   …, es tut mir leid zu stören, aber gleich kommt der Arzt zur Visite.«
    ***
    Emma Schobinger trug noch immer Schwarz. Betsy holte ihre Schwester und den Verlobten ihrer Nichte an der Poststation ab und
     brachte sie ins Hotel Victoria, wo sie Zimmer reserviert hatte.
    Emma wollte sich frisch machen und dann gleich zu ihrer Tochter eilen. Adrian sollte etwas später nachkommen.
    Betsy hatte nichts dagegen, inzwischen im Park des Kurhauses mit Adrian spazieren zu gehen. So konnte sie sich selbst ein
     Bild von dem jungen Mann machen, dessen Stern gerade zu sinken schien. Auf den ersten Blick war an ihm nicht viel auszusetzen.
     Eigentlich passte er gut zu

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