Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
Vom Netzwerk:
Mathilde. Und es wäre das Beste für alle, wenn sein Stern wieder stiege und James ganz schnell
     aus Mathildes Leben verschwände. Mathilde würde in Adrian einen treu sorgenden Mann finden, ihre Familie wäre zufrieden, und
     von der Geschichte mit James würde niemand erfahren. Und was aus ihr selbst und Edward werden konnte, würde man sehen. Der
     einzige Unsicherheitsfaktor war James, weil Männer, so dachte Betsy anklagend, kein Talent zur Traviata hatten.
    ***
    Adrian hatte sich darauf eingestellt, eine abgezehrte Kranke vorzufinden, und war überrascht, dass Mathilde diesem Bild ganz
     und gar nicht entsprach. Sie hatte zugenommen und sah rosig aus, ja, sie war braun wie ein Bauernmädchen, das keinen Sonnenschirm
     kennt. Aber nicht nur ihr Aussehen widersprach seinen Erwartungen. Mathilde nahm seine liebevolle Umarmung hin wie ein eingesalzener
     Stockfisch. Nicht, dass sie sich abweisend verhielt, aber er schien ihr völlig fremd geworden zu sein, und seine Umarmung
     schien nichts, aber auch gar nichts in ihr auszulösen.
    »Tilda«, sagte er, »du siehst gut aus, viel besser, als ich dachte! Was sagt der Arzt? Er muss doch sicher mit dir zufrie-den
     sein? Was meint er, wie lange musst du noch hier oben bleiben? Sicher kann ich dich schon bald nach Zürich holen.«
    Er umarmte sie noch einmal, und weil er befremdet über ihre Zurückhaltung war, versuchte er, den Graben schnell mit Worten
     zuzuschütten. »Du musst dich nicht sorgen. Ich habe schon mit deiner Mutter gesprochen, wir übereilen nichts mit den Hochzeitsvorbereitungen.
     Erst musst du wieder ganz bei Kräften sein. Aber es wird dich ablenken und dir Spaß machen, nach deiner Rückkehr in aller
     Ruhe die letzten Dinge für die Aussteuer auszusuchen. Und wir werden uns alle Zeit lassen, eine Wohnung zu finden   …«
    Aber was war denn mit ihr, sie hörte gar nicht richtig zu.
    »Möchtest du etwas trinken?«, fragte Mathilde und entzog sich seiner Umarmung, um ihm Tee einzuschenken, hielt dann aber mitten
     in der Bewegung inne. »Oder möchtest du lieber Wasser?«
    »Danke, danke«, murmelte er, »es ist mir gleich, es ist mir ganz gleich   …«
    Sie setzte sich und sah in die Ferne. Vom Balkon aus konnte man eine Ecke des Moritzer Sees sehen, dessen glitzerndeOberfläche sich gerade verdunkelte, weil die Sonne nicht mehr bis dorthin reichte.
    »Ich schaue gern auf den See«, sagte Mathilde, »er ist so lebendig. Siehst du dort das Dampfschiffchen? Denk dir, sie befahren
     den See, die Touristen lieben Bootsfahrten!«
    Sie bemerkte, dass Adrian sie zweifelnd ansah und nicht wusste, was er antworten sollte.
    »Ich lebe jetzt hier, weißt du«, sagte sie deshalb entschuldigend. »Man vergisst die Stadt, die Menschen, die dort leben,
     das Leben, das man vorher so wichtig nahm. Hier geht einfach die Sonne auf, strahlt herab, erwärmt die Luft, sinkt, wirft
     Schatten, geht unter. Ich esse sechsmal am Tag, liege, mache Spaziergänge, schlafe. Bald kommt der Herbst, dann der Winter.
     Der Winter soll besonders gut für mich sein, meint Dr.   Bernhard.«
    »Aber Tilda!«, rief Adrian. »Wer spricht denn vom Winter. Der ist noch weit hin, und bis dahin bist du längst zurück bei deinen
     Eltern und bei mir.«
    Mathilde schüttelte den Kopf.
    Adrian wollte nicht glauben, dass sie so gelassen, so schicksalsergeben war. »Du bist einsam hier oben, Liebste«, sagte er,
     »schrecklich einsam! Davon wirst du ganz trübsinnig. Und die Langeweile. Du musst dich schrecklich langweilen, es gibt ja
     keine Anregung, kein Theater, kein Konzert, keine Tees, nicht einmal einen Jahrmarkt. Niemanden außer deiner Tante Betsy.
     Sie hat uns viel zu lange davon abgehalten, zu dir zu kommen. Ich hätte es nie zulassen dürfen! Du müssest erst zu dir kommen,
     hat sie gesagt. Aber du bist einsam gewesen stattdessen, furchtbar einsam!«
    Mathilde schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte sie, »ich bin nicht einsam. Gar nicht. Ich bekomme jeden Tag Besuch. Ich langweile mich auch nicht. Es ist einfach
     anders hier, alles ist anders jetzt.«
    Adrian war beunruhigt. Mathilde war krank, aber auf eine andere Art, als er gedacht hatte.
    »Es ist schön, dass sich deine Tante so rührend um dich kümmert   …«
    »Nein«, widersprach Mathilde ihm, »es ist nicht nur Betsy, die mich besucht. Wir haben zwei junge Engländer kennengelernt,
     mit denen wir einiges unternommen haben. Betsy geht weiter mit ihnen aus, sie machen sogar Wanderungen, haben den berühmten
    

Weitere Kostenlose Bücher