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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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Buschwerk und Gras, das, Haarbüscheln gleich, über den Rand ragte und da, wo es zu weit überhing,
     weich und faulig im Wasser lag. Auf dem sumpfigen Rand verbreitete eine Alpenrose ein letztes Rosa, dunkel umstanden Bäume
     den Ort. Auf der linken Seite war das Wasser eingefasst von einem flachen, durch Zeit und Wetter abgeschliffenen Granitfelsen,
     auf dem sich grüne und braune Flechten angesiedelt hatten. Aus allen Felsritzen drängte sich Moos, farniges Unkraut.
    Nika beugte sich über das Wasser. Schnaken und Wasserläufer huschten lautlos über die dunkle Oberfläche, und je weiter Nika
     sich vorbeugte, umso mehr wurde das Wasser zu einem Spiegel. Auf schwarzem Grund erschienen der helle Himmel, Baumstämme,
     Baumkronen, ein detailgetreues Abbild des Hellen im Dunklen. Nika streckte einen Arm aus. Sie sah sich selbst, ihr Haar leuchtete
     im dunklen Wasser auf, Arm und Hand stiegen ihr ruhig und klar, ohne jede Verzerrung, aus der Tiefe entgegen.
    Reglos blieb Nika stehen, umklammerte Segantinis Hand. Eine kleine weiße Wolke schwamm in das Bild und segelte wieder hinaus.
    Ein leichter Windhauch kräuselte die Wasseroberfläche. Alszitterndes Spiel von Licht und Schatten erschien sie auf dem Felsen wieder. Segantini deutete schweigend mit dem Finger darauf.
     Neben abgestorbenem Geäst und einem Vogelkadaver, der vom Gewimmel tausender Ameisen bedeckt war, drängte sich frisches hellgrünes
     Gras hervor.
    »Schau, dort«, sagte Segantini endlich, »der Fels. Da rechts endet er in einem flachen Steintritt. Das ist die Stelle, wo
     du stehen und dich spiegeln wirst auf meinem Bild.«
    Nika ließ seine Hand los, kletterte über den Felsen, erreichte die flache Stufe, stand ihm nun direkt gegenüber. Legte den
     Kopf zurück, sah zum Himmel hinauf, ins helle Licht, blinzelte, sah wieder Segantini an, schlüpfte aus dem schwarzen langen
     Rock, zog die Bluse aus und stand nackt auf der anderen Seite des Wassers. Sie hob die Hände, löste den Knoten in ihrem Nacken,
     fasste das lange rotblonde Haar und hielt es, sich niederbeugend, aus dem Gesicht, um sich besser betrachten zu können.
    Da stand sie, auf dreihundert Millionen Jahre altem Gestein, und sah in die Tiefe der Gletschermühle, eine offene Stelle im
     Leib der Erde.
    »Schauen Sie!«, rief sie Segantini zu. »Schauen Sie nur, wie es in diesem Sumpfloch krabbelt!« Sie schüttelte sich, lachte.
     »Sehen Sie das gruselige Wesen dort? Das kleine Ungeheuer schwimmt herum, man weiß nicht, ob es eine Heuschrecke mit Fischschwanz
     oder ein kleiner Fisch mit Insektenkopf ist!«
    Segantini stand wie angewurzelt da und sah angeekelt auf das fremdartige Insekt. Dann zog er die Weste über, als fröre ihn
     plötzlich, und sagte heiser: »Wir müssen zurück.«
    »Aber es ist wunderschön hier!«, rief Nika von der andern Seite herüber.
    Segantini antwortete nicht. Er hatte schon die Flucht ergriffen.

Herrenbesuche
    »Ihr Freund hat Sie gut vertreten«, sagte Mathilde, als James auf den Balkon trat und sie begrüßte. Sie legte das Buch beiseite,
     das sie gerade las.
    »So gut hat er mich vertreten, dass Sie mich sogar wieder empfangen«, lächelte James. »Es freut mich, dass Sie mich gerufen
     haben. Aber ich habe mich Ihrem Wunsch nicht widersetzen wollen, als Sie mich weggeschickt haben.«
    »Ich hätte mir gewünscht, Sie wären trotzdem gekommen«, antwortete sie. »Dann hätte ich gewusst, dass Ihnen wirklich etwas
     an mir liegt. Als Sie gar nicht mehr kamen, konnte ich mir denken, was ich wollte – dass ich Ihnen gleichgültig bin oder dass
     Sie meinen Wunsch respektieren.« Sie öffnete die Hand, in der der blaue Schmetterling lag, und hauchte darauf, als wolle sie
     ihn zum Leben erwecken.
    »Es ist aber nicht genug, dass ich mir alles Mögliche denken kann«, fuhr sie fort. »Ich finde so keinen Frieden. Sagen Sie
     mir also – deshalb habe ich Sie herbitten lassen   –, was Sie für mich empfinden.«
    Sie saß aufrecht in ihrem Sessel, eine anmutige Erscheinung. Sie war reifer und sicherer geworden, sie gefiel James plötzlich
     außerordentlich gut. Und sie gab ihm noch eine letzte Chance. Er dachte an Segantini, der einen völlig anderen Weg gewählt
     hatte als er, um dem Gefühl der Einsamkeit zu entfliehen. Er, James, hatte sich kein Ideal geschaffen, dem er sich hoffnungsvoll
     annäherte. Er lief der Einsamkeit davon, indem er nirgendwo so lange blieb, dass sie ihn wieder hätteeinholen können. Er zögerte mit seiner Antwort.

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