Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
Vom Netzwerk:
Maler Segantini besucht, und der eine von den beiden besucht mich, ich kann die Uhr nach ihm stellen.«
    Adrian runzelte die Stirn.
    »Wie?«, meinte er. »Du kannst die Uhr nach ihm stellen? So regelmäßig kommt er? Das ist doch kompromittierend, Tilda, für
     ein verlobtes Mädchen   …«
    »Das sehen die Ärzte und Schwestern hier anders«, entgegnete sie lebhaft, »es ist gut für mich und anregend, das spüre ich
     selbst. Und der Rotwein schmeckt mir besser in Gesellschaft, allein macht er mich manchmal traurig und   …«
    »Was für ein Rotwein?«, unterbrach Adrian sie entsetzt. »Du trinkst Wein mit diesem Menschen, hier, in deinem Zimmer?«
    »Nein«, Mathilde lachte, »nein, es gibt eine schöne Halle unten in der Klinik. Ich liege ja nicht nur im Bett, ich gehe sogar
     schon recht lange spazieren, sogar den Berg hinauf. Wenn ich mich nicht mehr wie eine lahme Ente anstelle, kann ich Edward
     bitten, mich zu begleiten   …«
    »Edward?«, fragte Adrian. »Edward?«
    »Ja«, nickte Mathilde. »Er weiß, wo die Feuerlilien wachsen.« Sie schwieg einen Moment, dann setzte sie hinzu. »Ach, bis ich
     so weit hinaufkann, sind sie ja längst verblüht.« Sie verstummte und schien in sich selbst zu versinken.
    Adrian war erschüttert. Was war mit Mathilde geschehen? Er kannte sie nicht wieder. »Tilda«, sagte er, »vielleicht musstdu dich jetzt ein bisschen ausruhen. Ich komme sehr bald wieder. Wir bleiben ein paar Tage, deine Mutter und ich, und wir
     werden viel Zeit haben, uns wieder aneinander zu gewöhnen.«
    »Aber nicht morgen um zehn, da kommt Edward. Komm am Nachmittag, ja? Schau dir doch am Morgen gemeinsam mit Mama ein bisschen
     St. Moritz an   …«
    ***
    »Ich reise ab«, sagte James.
    »Aber Jamie, jetzt, wo es hier so schön ist!«
    »Ich sehe nicht, wo es hier gerade schön ist«, entgegnete James und sah seinen Freund an, als ob der an Halluzinationen leide.
    Doch Edward fuhr unbekümmert fort: »Mir gefällt es jeden Tag besser hier. Die Luft tut mir ausgesprochen gut. Ich grüble nicht
     mehr über Emily und die Vergangenheit nach. Schon seit Langem habe ich mich nicht mehr so leicht gefühlt, so voller Schwung.
     Wolltest du nicht noch Segantini zu seinen Bildern begleiten und Fotografien machen? Die Leute wollen doch Segantini sehen,
     wie er leibt und lebt und wie er malt!«
    »Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn James. »Ich denke eher, es ist Mathilde, die dir guttut. Du brauchst dich bitte nicht
     näher darüber auszulassen.«
    Die beiden saßen in der Stüva der Pension Veraguth und hatten schon ausgiebig dem Veltliner zugesprochen.
    »Aber warum bist du denn plötzlich so sarkastisch?«, fragte Edward nach.
    »Ich bin nicht sarkastisch. Ich vermisse nur die Stadt. Außerdem ist mir hier im Moment alles zu gefühlsgeladen. Das ist nicht
     gesund für mich. Verstehst du?«
    »Nein«, antwortete Edward und sah ihn verständnislos an.

Der erste Schnee
    Die Tage wurden wieder kürzer, die Abende frischer. Am 28.   August 1896 schneite es in Maloja, und es ging ein heftiger Wind. Baba heizte den Ofen ein, und Segantini beschloss, schon
     bald in sein Winterquartier nach Soglio im Bergell überzusiedeln, wo das Klima milder war und er länger als in Maloja draußen
     malen konnte. Schulden, die immer weniger zu ignorieren waren, trugen das Ihre zu diesem Gedanken bei.
     
    Nika fror im Stall. Im Moment war das Zimmer, in dem Luca und Gian geschlafen hatten, frei, aber Benedetta hoffte auf die
     Rückkehr Lucas, und auch Gian würde bald mit den Kühen von den Bergen herunterkommen, wenn es einen frühen Wintereinbruch
     geben sollte. Für Nika war dann kein Platz mehr. Wenn die Kälte kam, musste sie weiter.
    Mit steifen Fingern klaubte Nika das Medaillon unter ihrem Strohsack hervor, öffnete es, entfaltete den Zettel und starrte
     auf die Schriftzeichen, deren Bedeutung sie noch immer nicht entziffern konnte, obwohl sie jetzt fließend las. Immerhin konnte
     sie die Lieder des Gesangbuches am Sonntag in der Kirche ohne Mühe lesen. Sie hauchte auf die goldene Kapsel und rieb sie
     mit ihrem Rock glänzend. Wohin wollte das Medaillon sie führen?
    Doch im Moment gab es anderes: Es war kalt, sie musste einen wärmeren Platz zum Schlafen finden. Sie wollte noch einmal zu
     Signore Robustelli gehen, ihn bitten, ihr schon jetzt behilflich zu sein. Wenn es mit einer Winterstellung nichtschnell genug klappte, hatte er vielleicht eine andere Idee, wo er sie unterbringen konnte
    Als

Weitere Kostenlose Bücher