Billard Um Halb Zehn: Roman
Blättern für Gebildete: Dehmel und so; nein, nimm es nicht an, Robert, Gretzens Pasteten, die Butter des Abts, Honig, Goldstücke und
Hasenpfeffer: wozuwozuwozu, wenn die anderen es nicht haben; die Nichtprivilegierten dürfen getrost Honig und Butter essen, es verdirbt ihnen nicht Magen und Gehirn, aber du nicht, Robert, du mußt dieses Dreckbrot essen: die Augen werden dir übergehen vor Wahrheit, und du mußt diese schäbigen Kleiderstoffe tragen, dann wirst du frei sein. Ich habe nur einmal ein Privileg genutzt, ein einziges Mal, du mußt mir verzeihen; ich konnte es nicht mehr ertragen; ich mußte zu Dröscher gehen, um für dich Amnestie zu erwirken; wir hielten es nicht mehr aus: Vater, ich, Edith, dein Sohn war schon geboren; wir fanden deine Botschaften im Briefkasten, sie waren winzig, so groß nur wie die Schnippel, die an Hustenbonbons herausragten; der erste kam vier Monate, nachdem du verschwunden warst: ›Macht euch keine Sorgen, ich studiere fleißig in Amsterdam. Kuß für Mutter, Robert.‹ Sieben Tage später kam der zweite: ›Ich brauche Geld, gebt's, in Zeitungspapier gewickelt, einem Mann, der Groll heißt, Kellner im ,Anker' am oberen Hafen. Kuß für Mutter, Robert.‹
Wir brachten das Geld hin; stumm servierte der Kellner, der Groll hieß, uns Bier und Limonade, nahm stumm das Paket entgegen, lehnte stumm Trinkgeld ab, schien uns gar nicht zu sehen, unsere Fragen gar nicht zu hören.
Wir klebten deine winzigen Botschaften in ein Notizbuch; lange kam keine, dann kamen sie öfter. ›Geld immer erhalten: 2., 4. und 6. Kuß für Mutter, Robert.‹ Und Otto war auf einmal nicht mehr Otto: ein schreckliches Wunder war geschehen: er war Otto und war's nicht mehr, er brachte Nettlinger und den Turnlehrer mit ins Haus; Otto - ich begriff, was es heißt, wenn sie sagen, daß von einem Menschen nur noch die Hülle übrigbleibt; Otto war nur noch Ottos Hülle, die rasch einen anderen Inhalt bekam; er hatte vom Sakrament des Büffels nicht nur gekostet, er war damit geimpft worden; sie hatten ihm sein altes Blut herausgesogen und ihm neues eingefüllt: Mord war in
seinem Blick, und ich verbarg ängstlich die Zettel.
Monatelang kam kein Zettel; ich kroch im Flur über die Fliesen, suchte jede Ritze ab, jeden Fingerbreit des kalten Bodens, nahm die Lamperien weg, kratzte den Dreck heraus, weil ich fürchtete, die Kügelchen könnten hinter die Lamperie gerutscht, geblasen worden sein; ich schraubte den Briefkasten ab, nahm ihn auseinander, nachts, und Otto kam, drückte mich mit der Tür gegen die Wand, trat mir auf die Finger, lachte: monatelang fand ich nichts; die ga nze Nacht stand ich hinter dem Vorhang im Schlafzimmer, wartete auf das Morgengrauen, bewachte die Straße und die Haustür, rannte hinunter, wenn ich den Zeitungsboten kommen sah; nichts; ich suchte die Brötchentüten ab, goß die Milch vorsichtig in die Kasserolle, löste das Etikett: nichts. Und wir gingen abends in den Anker, drückten uns an Uniformen vorbei, in die hintere Ecke, wo Groll bediente; aber der blieb stumm, schien uns nicht zu kennen; erst nach Wochen, nachdem wir Abend für Abend da gesessen und gewartet hatten, schrieb er auf den Rand des Bierdeckels:
›Vorsicht! Ich weiß nichts!‹, schüttete Bier um, verwischte alles
zu einem großen Tintenstiftklecks, brachte neues Bier, das er nicht bezahlt haben wollte; Groll, der Kellner im Anker; er war jung, hatte ein schmales Gesicht.
Und wir wußten natürlich nicht, daß der Junge, der die Zettelchen in unseren Briefkasten geworfen hatte, längst verhaftet war; daß wir bespitzelt wurden und Groll nur deshalb noch nicht verhaftet, weil sie hofften, er werde nun doch mit uns zu sprechen anfangen; wer kennt schon diese höhere Mathematik der Mörder; Groll, der Junge mit den Zettelchen, verschwunden beide, Robert - und du gibst mir kein Gewehr, erlöst mich nicht aus diesem verwunschenen Schloß.
Wir gaben die Besuche im Anker auf, fünf Monate nichts gehört; ich konnte nicht mehr, nahm zum ersten Mal Privilegien an, ging zu Dröscher, Dr. Emil, Regierungspräsident; ich war mit seiner Schwester zur Schule gegangen, mit ihm in die
Tanzstunde; wir hatten Landpartien gemacht, Bierfässer auf
Kutschen geladen, Schinkenbrote am Waldrand ausgepackt, hatten auf frischgemähten Wiesen Ländler getanzt, und mein Vater hatte dafür gesorgt, daß sein Vater, obwohl er nicht Akademiker war, in den Akademikerbund aufgenommen wurde; Quatsch, Robert - glaub nicht an so
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