Billard Um Halb Zehn: Roman
Lust haben, mit ihm Bier zu trinken oder seine Kinder zu familienverbindendem Badmintonspiel in Nettlingers Vorstadtvilla zu führen.
»Darf ich dir etwas vorschlagen?« fragte Nettlinger.
»Bitte«, sagte Schrella, »schlag mir was vor.«
»Also hier«, sagte Nettlinger, »da gäbe es als Vorspeise einen ausgezeichneten Räucherlachs, dann Hühnchen mit Pommes frites und Salat, und ich würde meinen, daß wir uns nachher erst entschließen, welchen Nachtisch wir nehmen; weißt du, für mich ergibt sich der Appetit auf den Nachtisch erst während des Essens, ich vertraue da meinem Instinkt - ob ich nachher Käse, Kuchen, Eis oder ein Omelette nehmen werde; nur über eins bin ich mir vorher schon sicher; über den Kaffee.« Nettlingers Stimme klang, als hätte er an einem Kursus ›Wie werde ich Feinschmecker?‹ teilgenommen; noch wollte er seine einstudierte Litanei, auf die er stolz zu sein schien, nicht abbrechen, murmelte Schrella zu: »Entrechte a deux - Forelle blau - Kalbsmedaillon.«
Schrella beobachtete Nettlingers Finger, der andächtig an der Liste der Speisen herunterwanderte, an bestimmten Speisen hielt
Schnalzen, Kopfschütteln, Unentschlossenheit - »Wenn ich Poularde lese, werde ich immer schwach.«
Schrella steckte sich eine Zigarette an, war glücklich, daß er diesmal Nettlingers Feuerzeug entging; er nippte an seinem Martini, folgte mit den Augen Nettlingers Zeigefinger, der nun
bei den Nachspeisen angekommen war. ›Ihre verfluchte Gründlichkeit‹, dachte er, ›verdirbt einem sogar den Appetit auf so was Vernünftiges und Gutes wie gebratenes Huhn; sie müssen einfach alles besser machen und sind offenbar auf dem besten Wege, sogar in der Zelebrierung des Fressens die Italiener und Franzosen noch zu übertrumpfen.‹
»Bitte«, sagte er, »ich bleibe bei Hühnchen.«
»Und Räucherlachs?«
»Nein, danke.«
»Du läßt dir da etwas ganz Köstliches entgehen; du mußt doch einen Mordshunger haben.«
»Den habe ich«, sagte Schrella, »aber ich werde mich an den Nachtisch halten.«
»Wie du willst.«
Der Ober brachte noch zwei Martinis, auf einem Tablett, das sicher mehr gekostet hatte als ein Schlafzimmer; Nettlinger nahm ein Glas vom Tablett, reichte es Schrella, nahm seins, beugte sich vor und sagte: »Dies auf dein Wohl, auf dein spezielles.«
»Danke«, sagte Schrella, nickte und trank.
»Eins ist mir noch unklar«, sagte er, »wie kam es, daß sie mich an der Grenze schon verhafteten.«
»Es ist ein verdammter Zufall, daß dein Name noch auf der Fahndungsliste stand; Mordversuch verjährt nach zwanzig Jahren, und du hättest schon vor zwei Jahren gestrichen werden müssen.«
»Mordversuch?« fragte Schrella.
»Ja, was ihr damals mit Wakiera gemacht habt, lief unter dieser Bezeichnung.«
»Du weißt wohl nicht, daß ich gar nicht daran beteiligt war; ich habe diese Sache nicht einmal gebilligt.«
»Nun«, sagte Nettlinger, »desto besser; dann wird es keine Schwierigkeiten machen, deinen Namen endgültig von der Fahndungsliste zu streichen; ich konnte mich nur für dich verbürgen und deine vorläufige Freilassung erwirken; die Eintragung konnte ich nicht annullieren; jetzt wird alles weitere nur eine Formsache sein. Du gestattest, daß ich mit meiner Suppe schon anfange?«
»Bitte«, sagte Schrella.
Er wandte sich ab, dem Bahnhof zu, während Nettlinger seine Suppe aus dem Silberbecher löffelte; gewiß waren die blaßgelben Klößchen in der Suppe vom Mark der edelsten Rinder, die je auf deutschen Wiesen geweidet hatten; golden schimmerte auf dem Tablett der Räucherlachs zwischen dem frischen Grün der Salatblätter; sanft gebräunt war der Toast, silbrige Wassertropfen bedeckten die Butterklümpchen; beim Anblick des essenden Nettlinger mußte Schrella gegen ein elendes Gefühl der Rührung ankämpfen; er hatte Essen immer als einen hohen Akt der Brüderlichkeit empfunden; Liebesmahl in elenden Hotels und in guten; allein essen zu müssen war ihm immer wie eine Verdammung erschienen, und den Anblick allein essender Männer in Wartesälen und Frühstückszimmern, in den unzähligen Pensionen, die er bewohnt hatte, war für ihn immer der Anblick von Verdammten gewesen; er hatte immer Gesellschaft beim Essen gesucht, sich am liebsten zu einer Frau gesetzt; ein paar Worte gewechselt, während er Brot zerbröckelte, ein Lächeln über den Suppenteller hin, ein paar Handreichungen machten den rein biologischen Vorgang erst erträglich und zum Genuß; Männer wie
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