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Billard um halbzehn

Billard um halbzehn

Titel: Billard um halbzehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Wackes und Nettlinger in Ottos Zimmer hinaufgehen sah, ihnen im Flur begegnete, und er erschrak über die Erkenntnis, daß die beiden ihm weniger unverständlich waren als sein Bruder; sogar Mörder waren nicht immer Mörder, waren es nicht zu jeder Stunde des Tags wie der Nacht, es gab den Feierabend des Mörders, wie es den Feierabend des Eisenbahners gab; jovial waren die beiden, klopften ihm auf die Schulter; Nettlinger sagte: ›Na, war ich's nicht, der dich laufen ließ?‹ Sie hatten Ferdi dem Tod überliefert, Groll und Schrellas Vater, den Jungen, der die Botschaften überbrachte, dorthin geschickt, wo man spurlos verschwindet, aber nun: Schwamm drüber. Man ist doch kein Spielverderber. Nichts für ungut. Feldwebel bei den Pionieren; Sprengspezialist, verheiratet, mit Wohnung, Rabattsparbuch und zwei Kindern. ›Um deine Frau brauchst du dich nie zu sorgen, der wird nie was passieren, solange ich noch da bin.‹
    »Nun? Hast du mit Otto gesprochen? Ohne Erfolg? Ich habe es gewußt, aber man muß es immer wieder versuchen, immer wieder; komm näher, leise, ich muß dir was sagen! Ich glaube, er ist verflucht, behext, wenn dir das besser gefällt, und es gibt nur einen Weg, ihn zu befreien: ich muß haben ein Gewehr, muß haben ein Gewehr; der Herr spricht: ›Mein ist die Rache‹, aber warum soll ich nicht des Herrn Werkzeug sein?«
    Sie ging zum Fenster, nahm aus der Ecke zwischen Fenster und Vorhang den Spazierstock ihres Bruders, der vor dreiundvierzig Jahren gestorben war, legte den Stock an wie ein Gewehr und zielte, nahm Ben Wackes und Nettlinger aufs Korn; sie ritten draußen vorüber, der eine auf einem Schimmel, der andere auf einem Braunen; der wandernde Spazierstock zeigte das Tempo des vorübergehenden Pferdes genau an, das war wie mit der Stoppuhr gemessen; sie kamen um die Ecke, am Hotel vorbei in die Modestgasse hinein, ritten vorüber bis ans Modesttor, das die Sicht versperrte; und sie senkte den Stock.
    ›Zweieinhalb Minuten hab ich Zeit‹, Atemholen, zielen,
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    Druckpunkt nehmen; die Nähte ihres Traumes waren stichfest, nirgendwo ließ sich die feingesponnene Lüge aufreißen; sie stellte den Stock wieder in die Ecke.
    »Ich werde es tun, Robert, werde das Werkzeug des Herrn sein; ich habe Geduld, die Zeit dringt nicht in mich ein; nicht Pulver mit Pappe, sondern Pulver mit Blei muß man nehmen; Rache für das Wort, das als letztes die unschuldigen Lippen meines Sohnes verließ. Hindenburg; das Wort, das auf dieser Erde von ihm blieb; ich muß es auslöschen; bringen wir Kinder zur Welt, damit sie mit sieben Jahren sterben und als letztes Wort Hindenburg hauchen? Ich hatte das zerrissene Gedicht auf die Straße gestreut, und er war so ein korrekter, kleiner Bengel, flehte mich an, ihm eine Abschrift zu beschaffen, aber ich weigerte mich, wollte nicht, daß dieser Unsinn über seine Lippen kam; im Fieber suchte er sich die Zeilen zusammen, und ich hielt mir die Ohren zu, hörte es aber durch meine Hände hindurch: ›Der alte Gott wird mit Euch sein‹; ich versuchte, ihn aus dem Fieber zu reißen, wachzurütteln, er sollte mir in die Augen sehen, meine Hände spüren, meine Stimme hören, aber er sprach weiter: ›Solange noch deutsche Wälder stehn, solange noch deutsche Wimpel wehn, solange noch lebt ein deutsches Wort, lebt der Name uns terblich fort‹; es tötet mich fast, wie er im Fiebertraum das der noch betonte, ich suchte alles Spielzeug zusammen, nahm dir deins ab, und ließ dich losheulen, häufte alles vor ihm auf die Bettdecke, aber er kam nicht mehr zurück, blickte mich nicht mehr an. Heinrich, Heinrich. Ich schrie, betete und flüsterte, er aber starrte in Fieberländer, die nur noch eine einzige Zeile für ihn bereithielten: Vorwärts mit Hurra und Hindenburg; nur noch diese eine und einzige Zeile lebte in ihm, und ich hörte als letztes Wort aus seinem Mund: Hindenburg.
    Ich muß den Mund meines siebenjährigen Sohnes rächen, Robert, verstehst du denn nicht? An denen rächen, die da an unserem Haus vorbei auf das Hindenburgdenkmal zureiten; glatte Kränze werden hinter ihnen hergetragen, mit goldenen
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    Schleifen, schwarzen und violetten; immer habe ich gedacht: Stirbt er denn nie? Werden wir ihn in der Ewigkeit noch als Briefmarke serviert bekommen, den uralten Büffel, dessen Namen mir mein Sohn als Losungswort zurufen wird. Besorgst du mir jetzt ein Gewehr?
    Ich werde dich beim Wort nehmen; es braucht nicht heute zu sein, nicht morgen, aber bald; ich

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