Billard um halbzehn
Brille ab, wischte sie mit seinem Taschentuch und neigte sich nahe ans Fenster.
»Es muß dir doch merkwürdig vorkommen«, sagte Nettlinger,
»nach so langer Zeit und unter solchen Umständen wieder in Deutschland zu sein; du wirst es nicht wiedererkennen.«
»Ich erkenne es sogar wieder«, sagte Schrella, »ungefähr, wie man eine Frau wiedererkennt, die man als Mädchen geliebt hat und zwanzig Jahre später wiedersieht; nun, sie ist ein bißchen
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fett geworden; talgige Drüsen; offenbar hat sie einen nicht nur reichen, sondern auch fleißigen Mann geheiratet; Villa am Stadtrand, Auto, Ringe an den Fingern, die frühere Liebe wird unter solchen Umständen unvermeidlicherweise zu Ironie.«
»Natürlich sind solche Bilder ziemlich schief«, sagte Nettlinger.
»Es sind Bilder«, sagte Schrella, »und wenn du dreitausend davon hättest, sähst du vielleicht ein Zipfelchen von der Wahrheit.«
»Es scheint mir auch zweifelhaft, ob deine Optik die richtige ist: vierundzwanzig Stunden erst im Lande, davon
dreiundzwanzig im Gefängnis.«
»Du glaubst gar nicht, wieviel man im Gefängnis über ein Land erfahren kann; das häufigste Delikt in euren Gefängnissen ist Betrug; Selbstbetrug wird ja leider nicht als kriminell geahndet; vielleicht weißt du noch nicht, daß ich von den letzten zweiundzwanzig Jahren vier im Gefängnis verbracht habe?«
Das Auto fuhr langsam in einer langen Schlange los, die sich hinter der Ampel gebildet hatte.
»Nein«, sagte Nettlinger, »das wußte ich nicht. In Holland?«
»Ja«, sagte Schrella, »und in England.«
»Für welches Vergehen?«
»Affekthandlungen aus Liebeskummer, aber keineswegs aus Idealismus, sondern weil ich etwas Wirkliches bekämpfte.«
»Darf man Genaueres wissen?« fragte Nettlinger.
»Nein«, sagte Schrella, »du würdest es nicht verstehen und es wie ein Kompliment annehmen.
Ich bedrohte einen holländischen Politiker, weil er gesagt hatte, man müßte alle Deutschen umbringen, einen sehr beliebten Politiker; dann ließen die Deutschen mich frei, als sie Holland besetzten, und glaubten, ich sei eine Art Märtyrer für Deutschland, fanden aber dann meinen Namen auf der
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Fahndungsliste, und ich floh vor ihrer Liebe nach England; dort bedrohte ich einen englischen Politiker, weil er sagte, man müßte alle Deutschen umbringen, nur ihre Kunstwerke retten, einen sehr beliebten Politiker; aber sie amnestierten mich bald, weil sie glaubten, meine Gefühle respektieren zu müssen, Gefühle, die ich gar nicht gehabt hatte, als ich den Politiker bedrohte - so wird man aus Mißverständnis eingesperrt und aus Mißverständnis freigelassen.«
Nettlinger lachte: »Wenn du schon Bilder sammelst, darf ich deiner Sammlung eins hinzufügen. Wie ist es mit dem: rücksichtsloser politischer Haß zwischen Schulkameraden; Verfolgung, Verhör, Flucht, Haß bis aufs Blut - aber zweiundzwanzig Jahre später ist es ausgerechnet der Verfolger, der Schreckliche, der den heimkehrenden Flüchtling aus dem Gefängnis befreit? Ist das nicht auch ein Bild, würdig in deine Sammlung aufgenommen zu werden?«
»Es ist kein Bild«, sagte Schrella, »sondern eine Geschichte, die den Nachteil hat, auch noch wahr zu sein - aber wenn ich die Geschichte ins Bildhaft-Abstrakte übersetze und dir dann interpretiere, wird wenig Schmeichelhaftes für dich herauskommen.«
»Es ist gewiß merkwürdig«, sagte Nettlinger leise, und nahm seine Zigarre aus dem Mund, »wenn ich hier um Verständnis bitte, aber glaube mir: als ich deinen Namen auf der Fahndungsliste las und die Meldung kontrollierte und erfuhr, daß sie dich wirklich an der Grenze verhaftet hatten, habe ich nicht einen Augenblick gezögert, alles für deine Freilassung in die Wege zu leiten.«
»Es würde mir leid tun«, sagte Schrella, »wenn du glaubtest, daß ich die Echtheit deiner Motive und Gefühle bezweifle. Nicht einmal deine Reue ziehe ich in Zweifel, aber Bilder - und du hast mich gebeten, die Geschichte als Bild in meine Sammlung aufzunehmen -, Bilder bedeuten eine Abstraktion, und das ist die Rolle, die du damals gespielt hast und heute spielst; die Rollen
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sind - verzeih - die gleichen, denn damals bedeutete mich unschädlich zu machen, mich einzusperren, heute bedeutet mich unschädlich zu machen, mich freizulassen; ich fürchte, daß Robert, der viel abstrakter denkt als ich, aus diesem Grund keinen Wert darauf legt, dich zu treffen. Ich hoffe, du verstehst mich - auch damals habe ich an der
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