Billard um halbzehn
Echtheit deiner persönlichen Motive und Gefühle nie gezweifelt; du kannst mich nicht verstehen, versuche es gar nicht, denn du hast die Rollen nicht bewußt gespielt - sonst wärst du ein Zyniker oder ein Verbrecher - beides bist du nicht.«
»Ich weiß jetzt wirklich nicht, ob du mir Komplimente machst oder das Gegenteil.«
»Von beidem etwas«, sagte Schrella lachend.
»Vielleicht weißt du nicht, was ich für deine Schwester getan habe.«
»Hast du Edith geschützt?«
»Ja. Wakiera wollte sie verhaften lassen; immer wieder setzte er sie auf die Liste, und ich habe ihren Namen immer wieder gestrichen.«
»Eure Wohltaten«, sagte Schrella leise, »sind fast schrecklicher als eure Missetaten.«
»Und ihr seid unbarmherziger als Gott, der die bereuten Sünden verzeiht.«
»Wir sind nicht Gott und können uns seine Allwissenheit so wenig anmaßen wie seine Barmherzigkeit.«
Nettlinger lehnte sich kopfschüttelnd zurück; Schrella nahm eine Zigarette aus der Tasche, steckte sie in den Mund und erschrak wieder, als Nettlingers Feuerzeug so plötzlich vor seiner Nase klickte und die hellblaue, saubere Flamme ihm fast die Wimpern versengte. ›Und deine Höflichkeit‹, dachte er, ›ist schlimmer als deine Unhöflichkeit je war. Deine Beflissenheit ist die gleiche geblieben, es ist die, mit der du mir den
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Schlagball ins Gesicht geworfen hast und mit der du mir jetzt auf eine lästige Weise Feuer für meine Zigarette gibst.‹
»Wann wird Robert erreichbar sein?« fragte er.
»Wahrscheinlich erst am Montag, ich konnte nicht rauskriegen, wohin er übers Wochenende gefahren ist; auch sein Vater, seine Tochter, alle sind weg; vielleicht kannst du's heute abend in seiner Wohnung versuchen, oder morgen früh um halb zehn im Hotel Prinz Heinrich; dort spielt er zwischen halb zehn und elf immer Billard. Sie sind im Gefängnis hoffentlich nicht grob zu dir gewesen?«
»Nein«, sagte Schrella, »korrekt.«
»Sag mir, wenn du Geld brauchst. Mit dem, was du hast, wirst du nicht weit kommen.«
»Ich denke, bis Montag wird es reichen; ab Montag werde ich Geld haben.«
Zum Bahnhof hin wurde die Autoschlange länger und breiter.
Schrella versuchte, das Fenster zu öffnen, kam aber nicht mit den Handgriffen zurecht, und Nettlinger beugte sich über ihn, drehte das Fenster herunter.
»Ich fürchte«, sagte er, »die Luft, die da hereinkommt, ist nicht besser als die, die wir drinhaben.«
»Danke«, sagte Schrella; er sah Nettlinger an, nahm seine Zigarette von der linken in die rechte, von der rechten in die linke Hand. »Hör mal«, sagte er, »der Ball, den Robert damals schlug, ist er eigentlich je gefunden worden - du erinnerst dich?«
»Ja«, sagte Nettlinger, »natürlich erinnere ich mich gut, weil später soviel darüber geredet wurde; sie haben den Ball nie gefund en; sie suchten an diesem Abend bis spät in die Nacht, sogar am nächsten Tag, obwohl es ein Sonntag war; es ließ ihnen keine Ruhe; jemand behauptete später, es sei nur ein Trick von Robert gewesen, er habe den Ball gar nicht geschlagen, sondern nur das Geräusch des Schlagens nachgeahmt und den Ball dann verschwinden lassen.«
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»Aber sie haben doch alle den Ball gesehen, oder nicht - wie er flog?«
»Natürlich, niemand hat dieses Gerücht geglaubt; andere sagten, er sei in den Brauereihof gefallen, auf einen Bierwagen, der dort wartete, vielleicht erinnerst du dich, daß kurz darauf ein Wagen ausfuhr.«
»Es war vorher, lange bevor Robert schlug«, sagte Schrella.
»Ich glaube, du irrst«, sagte Nettlinger.
»Nein, nein«, sagte Schrella, »ich stand dort und wartete und beobachtete alles genau; der Wagen fuhr aus, bevor Robert schlug.«
»Na, gut«, sagte Nettlinger -; »jedenfalls wurde der Ball nie gefunden. Wir sind am Bahnhof - willst du dir wirklich nicht helfen lassen?«
»Nein, danke, ich brauche nichts.«
»Darf ich dich wenigstens zum Essen einladen?«
»Gut«, sagte Schrella, »gehen wir essen.«
Der Chauffeur hielt die Tür auf, Schrella stieg als erster aus, wartete mit den Händen in der Tasche auf Nettlinger, der seine Aktentasche vom Sitz nahm, seinen Mantel zuknöpfte und zum Chauffeur sagte: »Bitte, holen Sie mich gegen halb sechs am Hotel Prinz Heinrich ab.« Der Chauffeur legte die Hand an die Mütze, stieg ein und setzte sich ans Steuer.
Schrellas Brille, die abfallenden Schultern, der merkwürdig lächelnde Mund, das blonde Haar, ungelichtet, nur mit einem leichten silbernen Schimmer, immer noch
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