Billard um halbzehn
nach hinten gekämmt; die Bewegung, mit der er sich den Schweiß abwischte, dann das Taschentuch wieder in die Tasche steckte: Schrella schien unverändert, kaum um ein paar Jahre gealt ert.
»Warum bist du zurückgekommen?« fragte Nettlinger leise.
Schrella blickte ihn an, blinzelnd, wie er es immer getan hatte, mit den Zähnen an der Unterlippe nagend; in der rechten Hand
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die Zigarette, in der linken den Hut; er blickte Nettlinger lange an und wartete, wartete immer noch vergebens auf das, wonach er sich seit mehr als zwanzig Jahren sehnte: Haß; nach dem handgreiflichen, den er sich immer gewünscht hatte; jemand ins Gesicht schlagen oder in den Hintern treten, dabei rufen: ›Du Schwein, du elendes Schwein!‹ Er hatte immer die Menschen beneidet, die zu solch einfachen Gefühlen fähig waren, aber er konnte in dieses runde, verlegen lächelnde Gesicht nicht hineinschlagen und nicht in diesen Hintern treten; auf der Schultreppe das Bein gestellt, so daß er hinstürzte, sich ihm die Bügel der Brille ins Ohrläppchen bohrten; auf dem Heimweg überfallen, in Hauseingänge geschleppt und verprügelt; mit der Stacheldrahtpeitsche geschlagen, Robert und ihn; verhört; schuld an Ferdis Tod - und Edith geschont, Robert freigelassen.
Er blickte von Nettlinger weg auf den Bahnhofsvorplatz, wo es von Menschen wimmelte; Sonne, Wochenende, wartende Taxis und Eisverkäufer, Hotelboys in violetten Uniformen schleppten Koffer hinter Gästen her; die graue hoheitsvolle Fassade von Sankt Severin, Hotel Prinz Heinrich, Cafe Kroner; er erschrak, als Nettlinger plötzlich davonlief, sich in die Menschenmenge stürzte, mit den Armen fuchtelnd, rufend:
»Hallo, Fräulein Ruth...«, dann kam er zurück, schüttelte den Kopf. »Hast du das Mädchen gesehen?« fragte er, »die mit der grünen Mütze und dem rosaroten Pullover; sie ist auffallend hübsch - es war Roberts Tochter. Ich habe sie nicht mehr erwischt; sie hätte uns sagen können, wo wir ihn finden. Schade
- hast du sie gesehen?«
»Nein«, sagte Schrella leise, »Ediths Tochter.« »Natürlich«, sagte Nettlinger, »deine Nichte. Verflucht - nun, gehen wir essen.«
Er ging über den Bahnhofsvorplatz, überquerte die Straße; Schrella folgte ihm zum Hotel Prinz Heinrich; ein Boy in violetter Uniform hielt die Tür auf, die hinter ihnen in die Filzfugen zurückpendelte.
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»Fensterplatz?« fragte Jochen. »Aber gern. Nicht zuviel Sonne? Also Ostseite. Hugo, du sorgst mir dafür, daß die Herren einen Fensterplatz an der Ostseite bekommen. Keine Ursache.« -
Trinkgelder werden hier gern angenommen. Eine Mark ist eine ehrliche runde Münze, und Trinkgeld ist die Seele des Berufs, und ich habe doch gesiegt, mein Bester, du hast ihn nicht zu Gesicht bekommen. Wie bitte, ob Herr Dr. Fähmel auch sonntags hier Billard spielt? Schrella? Um Gottes willen! Da brauch ich nicht mal auf die rote Karte zu sehen. »Mein Gott, Sie werden einem alten Mann zu dieser stillen Stunde hier wohl eine außerdienstliche Bemerkung verzeihen, Herr Schrella! Ich habe ja Ihren Vater gut gekannt, gut; der hat doch ein Jahr bei uns gearbeitet - damals in dem Jahr, als das Deutsche Turn- und Sportfest war; Sie erinnern sich sogar daran? Natürlich, Sie müssen damals schon so an die zehn, elf gewesen sein; hier, meine Hand, ich würde mich freuen, wenn Sie sie drückten; mein Gott, Sie werden mir hier ein paar Gefühle verzeihen, die sozusagen nicht zu meinem Dienst gehören; ich bin alt genug, mir das leisten zu können; Ihr Vater war ein ernster Mann, und würdig! Mein Gott, der ließ sich keine Frechheiten gefallen und war zu denen, die nicht frech waren, wie ein Lamm; ich habe oft an Ihren Vater gedacht - verzeihen Sie mir, wenn ich da an alte Wunden rühre; um Gottes willen - ich hab ja ganz vergessen, mein Gott; ein Glück, daß diese Schweine nichts mehr zu sagen haben; aber Vorsicht, Herr Schrella, Vorsicht; manchmal mein ich: die haben doch gesiegt. Vorsicht. Trauen Sie dem Frieden nicht - und verzeihen Sie einem alten Mann ein paar außerdienstliche Gefühle und Bemerkungen. Hugo, den allerbesten Platz an der Ostseite für die Herren, den allerbesten.
Nein, Herr Schrella, sonntags kommt Herr Dr. Fähmel nicht zum Billardspiel, nein, sonntags nicht; der wird sich freuen, Sie sind doch Jugendfreunde und Gesinnungsgenossen gewesen, nicht wahr? Glauben Sie nicht, daß alle Menschen vergeßlich sind. Sollte er aus irgendeinem Grund hier auftauchen, so würde
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ich Ihnen
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