Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
gutem Rat bereit ihre Bestellung auf. Als Kiersten den gewünschten Wein nennen wollte, unterbrach er sie und bat darum, das ihm auf Kosten des Hauses zu überlassen. Dann beugte er sich zu Laurence hinunter und murmelte ehrerbietig: »Es ist uns eine große Ehre, Sie hier bei uns zu sehen!
Und eine echte Freude obendrein!«
Als er die Verlegenheit der jungen Frau wahrnahm, versicherte er sie durch Mimik und Gesten, dass sie sich selbstverständlich auf seine Diskretion verlassen könne. Niemand würde sie hier belästigen: Man sei schließlich ›unter Freunden‹.
Kiersten folgte ihm mit den Augen, als er sich vom Tisch entfernte. Alsbald konnte sie unschwer erkennen, dass sich in der engen Küche die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete. Sie erinnerte sich dabei an Lydias Bemerkung über die Berühmtheit der Frau Dr.
Descombes in Frankreich und ihre damit verbundenen Empfehlungen zur Rücksichtnahme darauf.
»Wenn wir den Wein kosten, werden wir ja sehen, wie ernst es dem guten Mann mit seinen Beteuerungen ist«, meinte sie leise.
»Aber es muss doch für Sie auch eher ungewöhnlich sein, nirgends unerkannt zu bleiben …«
»Ich kann mich nur schwer daran gewöhnen … Ich bin von einer Überwachung in die andere geraten. Nur mit dem Unterschied, dass dort ich selbst überwacht wurde, während ich hier das Gefühl habe, dass die Leute durch mich hindurchschauen, als ob ich nicht existierte. Sie scheinen sozusagen an meiner Stelle eine andere zu sehen, eine bloße Rollenträgerin. Sie müssen mich für sehr kompliziert halten …«
»Kompliziert eigentlich nicht, komplex schon. Aber Sie haben wirklich die Gabe, schwierige Sachverhalte in ganz einfachen Worten auszudrücken; ich beneide Sie echt darum!«
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»Das sollten Sie wirklich nicht! Jetzt habe ich den ganzen Abend nur von mir geredet, aber glauben Sie mir, das ist sonst nicht meine Gewohnheit.«
»Das liegt wohl daran, dass wir gemeinsam gelaufen sind«, vermutete Kiersten. »Was mich betrifft, so ist das gerade umgekehrt: Um mich jemandem anvertrauen zu können, muss er mir gegenübersitzen.«
»So wie ich jetzt vielleicht?«
Laurence lächelte dabei, und obwohl Kiersten sie erst am Vorabend kennen gelernt hatte, bezweifelte sie, dass das häufig geschah.
Sie beobachtete das zögernde Spiel der Lippenmuskeln und das leichte Beben der Nasenflügel und sagte sich: »Sie muss wirklich alles erst wieder neu lernen.«
»Ich habe in Ottawa einen Informatikexperten kennen gelernt, einen wahren Hexenmeister. Er hat eine ganz neue Art von Lügendetektor entwickelt, den er ›Pinocchio‹ nennt. Drollig, nicht wahr?
Weniger lustig fand ich es allerdings, dass er seine speziellen Fähigkeiten dazu benutzte, in meinen Computer einzudringen und in meinen persönlichsten Notizen herumzuschnüffeln.«
»In welcher Absicht?«, fragte Laurence und schien nicht weiter verblüfft über diesen jähen Gedankensprung.
»Das ist wieder eine andere Geschichte. Ich erwähne ihn hier, weil er von sich aus seine Indiskretion eingestanden hat. Freiwillig, ohne dass er dazu gezwungen gewesen wäre. Wenn er nichts davon gesagt hätte, wäre ich ihm nie auf die Schliche gekommen. Ich musste zugeben, dass er zwar keine Skrupel, aber jedenfalls Mut hatte.«
»Nun ja, aber war das nicht unklug? Es sei denn, er wollte dadurch Ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen …«
»Genau das! Aber ich finde, dass das die Anerkennung für sein offenes Bekenntnis nicht schmälert. Ich muss Ihnen etwas gestehen, Laurence: Ich bin sehr… sagen wir mal ›wettbewerbsorientiert‹. Das liegt nun einmal in meinem Charakter, ich kann nichts dagegen 303
tun. Und ich mag die Vorstellung nicht, dass ich mir selbst nicht in die Karten schauen lasse, während mein Spielgegner, so wie dieser Zauberkünstler Thierry Bugeaud, die seinen offen auf den Tisch legt…«
Sie legte dabei nicht die Karten auf den Tisch, sondern das wein-rote Tagebuch, das sie aus ihrer Handtasche genommen hatte. Laurence zuckte zusammen.
»Hier ist es also! Ich habe es schon überall gesucht! Ich hatte schon sehr befürchtet, dass ich es bei Catherine liegen gelassen hät-te … Ich habe sie gleich heute früh angerufen, aber man hat mir gesagt, sie sei nicht da. Wo haben Sie es denn gefunden?«
»›Gefunden‹ kann man das kaum nennen … Ich habe es aus Ihrer offenen Tasche genommen, als Sie zu diesem Fjodor hinaufgestie-gen sind …«
Laurence zog ihre schon ausgestreckte Hand zurück, als ob sie sich nicht
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