Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Zelle Gott vorgeworfen, untätig und verantwortungslos zu sein – und ihn doch im gleichen Atemzug angefleht um Gnade für den Gefangenen, den man im Laufe des Tages gefoltert hatte. Diese ›Gnade‹ hätte darin bestanden, es ihm durch göttliche Fügung zu ermöglichen, diese Nacht nicht zu überleben. Aber entweder tat sie ihre Pflicht als Ärztin zu gut, oder der liebe Gott hatte Dringlicheres zu tun: Zumeist überlebte das unglückliche Opfer. Nur, um wieder zu Kräften zu kommen und dann erneut einer ›hoch-notpeinlichen Befragung‹ unterworfen zu werden…
Sie durchstreiften Paris bis zum Einbruch der Dunkelheit – Laurence geleitete Kiersten mehr als freundliche Begleiterin denn als Führerin durch enge Gassen, sich unverhofft öffnende Plätze, durch gepflasterte Passagen verbundene Innenhöfe. Sie machte auf Details und Besonderheiten aufmerksam und erzählte Geschichten, die sich mit dieser oder jener Örtlichkeit verbanden, mit einer Mischung aus Ungezwungenheit und Hingabe, als schildere sie die Vergangenheit einer dritten Person – einer Schwester, einer guten Freundin.
Gelegentlich schwieg sie dann für lange Minuten, doch ihr lebhaftes Atmen verriet sie: Hier hing sie eigenen Erinnerungen und Gedanken nach.
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»Ich wollte Dora nicht kränken«, versicherte sie nach einem solchen Schweigen. »Sie ist so rasch gegangen!«
»Sie sollten wohl besser ›Lydia‹ sagen! Sie ist deshalb so eilig in ihr Hotel zurückgekehrt, weil sie sich noch auf eine in letzter Minute beschlossene Reise vorbereiten muss. Sicher, die Begegnung mit Ihnen war schmerzhaft für sie, aber das war nicht Ihre Schuld.
Aber Sie können sich beruhigen, sie ist ziemlich hart gesotten und hält schon was aus!«
»Gerade solche Leute trifft es oft am meisten! Aber sie ist doch sicher nicht allein wegen Gabriella hierher nach Paris gekommen.
Da gibt es doch gewiss noch einen anderen Grund, nicht wahr?«
»Ja – aber ich darf darüber nicht reden. Ich bin diesbezüglich zur Vertraulichkeit verpflichtet… Seien Sie mir bitte nicht böse!«
»Das bin ich nicht! Gestern noch waren Sie mir gegenüber auf der Hut… Heute dagegen vertrauen Sie mir. Ich fühle das, auch wenn ich es nicht verstehen kann.«
Kiersten begegnete Laurences Blick und traf eine Entscheidung; leicht fiel sie ihr nicht.
»Wollen wir uns nicht irgendwohin setzen? Wir könnten uns dort weiter unterhalten und einen Bissen dabei essen. Haben Sie irgendwelche Vorlieben?«
»Nicht unbedingt. Irgendwo, es wird schon recht sein …«
»Na, an solchen ›Irgendwos‹ fehlt es auch bei uns in Nordame-rika nicht. Was halten Sie denn von einem kleinen Italiener? Ich kenne da zufällig einen, schön ruhig, in der Rue des Saints-Pères.
Das ist zwar ein ordentlicher Trab von hier, aber wenn Sie wollen, können wir uns ja ein Taxi nehmen …«
»Aber nein, ich bin gar nicht müde. Außerdem mag ich es, sich so im Gehen zu unterhalten. Da braucht man sich nicht immer in die Augen zu schauen, und das erleichtert manches. Das ist merkwürdig…«
»Was denn?«
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»Sie haben von einem ›Trab‹ gesprochen. Diesen Ausdruck habe ich lange nicht mehr gehört… Mein Vater verwendete ihn gern …
Ich höre ihn noch: ›Lolo, machst du mal einen Trab zum Markt?‹«
»Fehlt er Ihnen?«
»Noch nicht. Um sein Fehlen zu empfinden, muss ich mich erst selbst wieder finden … Wissen Sie, warum ich Ihnen das alles er-zähle? Weil Sie nicht über mich urteilen.«
Kiersten suchte nach einer indirekten Formulierung, um ihr anzudeuten, dass diese Bemerkung sie bewege. Als sie sie endlich gefunden hatte, war der passende Augenblick dafür schon vorbei.
»Das ist doch typisch für mich!«, dachte sie. »Warum kann ich nicht sein wie sie? Sie sagt so etwas frei von der Leber weg, ohne sich bei jedem Wort davor zu fürchten, dass es unpassend sein könnte.«
Eine Frage beschäftigte sie so stark, dass sie sie unbedingt als Erste loswerden musste. Es ging dabei um diesen bizarren Psychiater, den sie am Vorabend in diesem seltsamen Haus in Passy gesehen hatte.
Laurence ging darauf in aller Ausführlichkeit ein, als ob sie ihr beweisen wolle, dass ein solcher langer gemeinsamer Fußmarsch wirklich eine ›vertrauensbildende Maßnahme‹ sei. Sie erzählte von ihrem Besuch in der Résidence Victor, von Teresa Lagerstein, von Antoine Becker und von ihrem ersten erzwungenen Gespräch bei diesem Fjodor Gregorowitsch.
»Inzwischen habe ich jede Woche zwei oder drei solcher
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