Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Wangen gestiegen war, wollte sich verteidigen. Laurence hinderte sie mit einer Handbewegung daran.
»Einen Augenblick, bitte«, murmelte sie mit verkrampftem Gesicht.
Das lastende Schweigen wurde ihr gleichermaßen bewusst wie die verlegene, gespannte Erwartung der beiden Frauen. Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen, sie musste nachdenken.
Im Grunde ging es weniger um Nachdenken als darum, eine andere Wahrheit zu verarbeiten und sie zu vereinbaren mit jener, die sie an deren Stelle bisher unwidersprochen im Kopf gehabt hatte. Weitere Fragen über Gabriella erübrigten sich. Zehn-, ja zwanzigmal hatte sie seit dem Vorabend deren Foto angeschaut. Was sie jetzt in Kierstens Zügen lesen konnte, deutete das Schlimmste an, und das Gleiche galt für die wütende Ohnmacht, die Lydia ins Gesicht geschrieben stand.
Eine Folge von anderen Bildern Gabriellas zog vor ihrem inneren Auge vorbei: die Besorgte im Flugzeug; die Unvorsichtige, die sich über die Reling des Bootes beugte; die Beunruhigte in der Kapelle des Heiligtums; die Ergebene bei der Untersuchung im Krankenzimmer…
Laurence wandte den Kopf, doch es war eine vergebliche Geste, um der Erinnerung an die Brandnarben auf der zarten Haut zu entgehen…
»Sie ist zu dieser Stunde vielleicht schon tot«, sagte sie mit fester Stimme. »Und es wäre wohl besser so!«
»Für mich jedenfalls wäre es besser!«, schrie Lydia auf. »Dann könnte ich wieder ohne Schlaftabletten schlafen!«
»Das sagen Sie so, aber glauben Sie es auch? Für Gabriella wäre es besser, gewiss. Schon in Xaghra war ihr Glück verbraucht. Glück war für sie nur noch, keine Schmerzen mehr erdulden zu müssen.
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Man behauptet ja, dass es keinen Preis für das Leben gebe. Aber sagen Sie mir: Warum musste gerade sie einen so hohen Preis bezahlen?«
»Ich kann verstehen, was Sie empfinden«, versicherte Kiersten leise. »Aber diesbezüglich kann ich Ihnen nicht folgen. Das hört sich ja an, als ob sie jede Hoffnung für dieses Mädchen aufgegeben hätten! Sie können aber doch nicht wissen, was die Zukunft ihm noch bringen könnte …«
»Das stimmt«, antwortete Laurence. »Das Schicksal macht manchmal Geschenke …«
Aber sie glaubte kein einziges Wort von dem, was sie da sagte.
Laurence war gläubig. Sie war in einer katholischen Familie aufgewachsen, hatte jedoch als Jugendliche aufgehört, ihren Glauben zu praktizieren – zweifellos abgestoßen durch die übertriebene Frömmigkeit ihrer Mutter. Seit ihrer Kindheit sprach sie zu Gott jeden Abend vor dem Einschlafen. Das waren weder auswendig gelernte Gebete noch Momente mystischer Verzückung oder Demütigung noch Akte der Zerknirschung. Es waren vielmehr in einfache Worte gekleidete Gedanken, oftmals Bitten um Rat, gelegentlich auch eine Anklage. Diese Gewohnheit gehörte zu ihrem täglichen Leben. Sie hatte aus Scham niemals mit jemandem darüber gesprochen; vielleicht auch aus Furcht, deshalb verlacht zu werden.
Niemals – ausgenommen ein einziges Mal während ihrer Gefangenschaft.
Sheba war von einer fünftägigen Unternehmung zurückgekommen und hatte eine Wache zu ihr in die Krankenstube geschickt. Die hatte sie in das alte Refektorium gebracht und sie dort allein gelassen mit der Weisung, sie solle sich ›vorbereiten‹. Was das hieß, war klar: Der Oberst wollte sich ihrer seiner Gewohnheit gemäß als einer Annehmlichkeit bedienen. Aber sie wusste auch, dass er sie an diesem Abend, bedrängt von seinem Bedürfnis und um es rasch zu befriedigen, mit besonderer Teilnahmslosigkeit behandeln würde. Konnte sie nicht wenigstens seine Verachtung provozieren?
Er hatte sie zwei Stunden warten lassen, und als er hereinkam, hörte sie 296
ihn nicht. Daher blieb sie mit geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl sitzen.
Er hatte sie schonungslos an ihren Haaren hochgezerrt. Was sei denn los, habe sie etwa das übliche Begrüßungsritual vergessen? Ertappt und unfähig, zu lügen, hatte sie ihm geantwortet, sie sei gerade beim Beten. Er hatte sie weder verspottet noch ungeduldig gemurrt, sondern sich in einen Sessel geworfen, die Augen an die Decke gerichtet und die Hände im Nacken verschränkt. »Wenn du fertig bist, kannst du noch mal von vorn anfangen«, hatte er gesagt. Es war das einzige Beispiel von Rücksichtnahme ihr gegen-
über, das sie bisher an ihm erlebt hatte – und es sollte auch das einzige in diesen fünf Jahren bleiben.
Beten, im ›Kloster‹ von Maghrabi? Wie oft hatte Laurence im Dunkel ihrer
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