Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
mehr ganz sicher sei, die rechtmäßige Besitzerin zu sein.
Sie dachte nach, ohne jedoch dabei aufzuhören, in Kierstens Zügen zu forschen.
»Sie wollten wissen, auf welcher Seite ich stehe …«, sagte sie, nach einer Erklärung suchend. »Haben Sie es gelesen?«
»Von der ersten bis zur letzten Zeile!« Kiersten schlug gegen ihren Willen die Augen nieder. »Und manche Passagen sogar mehrfach …«
»Mehrfach – und warum das?«
Welch eine Frage! Aber sie hatte sie vorhin ganz ähnlich in Bezug auf Thierry gestellt. Nur mit dem Unterschied, dass jetzt in ihrer Stimme eine gewisse Ungläubigkeit neben einem leichten Zittern lag. Man hatte ihr Tagebuch entwendet, eine Fremde war in ihre geheimsten Gedanken eingedrungen – und das sollte alles sein, was sie dazu zu sagen hatte?
»Weil es mich interessiert hat.«
»Es muss Sie eine Menge Zeit gekostet haben …«
»Einen guten Teil der Nacht. Zunächst forschte ich nach Infor-304
mationen im Zusammenhang mit meinen Ermittlungen. Aber ich begriff bald, dass ich diesbezüglich auf der falschen Fährte war.«
»Und trotzdem haben Sie weitergelesen!«, sagte Laurence mit Trä-
nen in den Augen.
»Ja, und es hat mir sehr geholfen, Sie besser zu verstehen. Aber ich habe auch aus einem sehr egoistischen Grund weitergelesen. Ich habe nämlich in Ihrem Tagebuch Überlegungen gefunden, die mich betrafen, mich selbst! Antworten auf Fragen, die mich seit langem nicht nur beschäftigen, sondern wahrhaft bedrängen … Glauben Sie bitte nicht, dass ich mich jetzt rechtfertigen möchte! Ich hatte keinerlei Recht, auf eine solche Weise in Ihre Intimsphäre einzudringen …«
Aber Laurence gebot ihr mit einer Handbewegung, nicht weiter fortzufahren. Da sie nicht auf Anhieb ihre Serviette fand, beugte sie sich hinunter, um sich mit einem Zipfel des Tischtuchs die Augen zu trocknen.
»Ich bin nicht gekränkt, falls Sie das annehmen sollten«, versicherte sie. »Im Gegenteil! Es bewegt mich außerordentlich, dass ein anderer Mensch so Anteil nimmt an dem, was in meinem tiefsten Inneren vorgeht. Können Sie das verstehen?«
Kiersten war völlig aus der Fassung gebracht. Eine solche Reaktion war das absolute Gegenteil von allem, womit sie gerechnet hatte. Diese Frau ihr gegenüber, die mit einem Stück Brot spielte, erschien ihr abwechselnd nah und sehr entfernt, vertraut und fremd.
Ein Kellner brachte ein paar dreieckige Toasts mit gedämpften To-maten und zerschmolzenem Gorgonzola. Ihm folgte ein Weinkell-ner, der Kiersten bat, den Bordeaux zu kosten. Es war ein ganz vorzüglicher Tropfen, unbestreitbar.
»Ich bemühe mich, es zu begreifen«, antwortete sie.
»Es ist recht einfach … Um eine ›Intimsphäre‹ zu haben, wie Sie sagen, muss man erst einmal jemand sein. Und davon bin ich noch weit entfernt! Seit meiner Rückkehr aus Farghestan kämpfe ich mit 305
all meiner Kraft darum, diesen Fluch abzuschütteln, niemand zu sein.«
Kiersten schwieg, obwohl sie sie gerne noch befragt hätte wegen dieser ›Risse‹, von denen immer wieder einmal in den Tagebuch-blättern die Rede war. Aber das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür; nichts überstürzen, sondern auf eine passende Gelegenheit warten. Obendrein waren sie nicht unentdeckt geblieben: An den Nachbartischen tuschelte man, warf verstohlene Blicke her-
über, versuchte vielleicht auch, etwas von ihrer Unterhaltung aufzu-schnappen. Der Wirt hatte schon Recht gehabt: Man war hier ›unter Freunden‹ …
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17. KAPITEL
m drei Uhr morgens klingelte der Wecker.
UJulien erhob sich maulend aus seinem Bett, tappte ins Bad, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht und ging dann in die Kü-
che hinunter, um sich einen starken Kaffee zu brauen.
Die Küche war unaufgeräumt, und über allem schwebte ein fet-tiger Geruch; das Geschirr stand ungespült im Ausguss, ein Rest von Lasagne auf der Arbeitsplatte, der Deckel des Abfallkübels war nicht geschlossen. Dabei war doch Rose immer so beflissen gewesen, so stolz auf ihren tadellosen Haushalt… Er hatte ihr angeboten, ihr über das Wochenende zu helfen: »Zu zweit geht das dreimal so schnell!« Ihre Ablehnung war in einer Tränenflut untergegangen, anschließend hatte sie Valium genommen …
Es war ein Teufelskreis. Seit nunmehr fast zwei Jahren lag das Adoptionsgesuch der Eheleute Boniface ziemlich weit oben auf einem diesbezüglichen Stapel bei der dafür zuständigen Stelle der Provinzialverwaltung. Im Frühjahr war dann eine Sozialarbeiterin
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