Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
gerade restauriert. Hohe Gerüste ragten hinter durchsichtigen Plastikfolien mit grauen Streifen auf, die das Quer-schiff abtrennten. Die Gewölbe, Strebebogen, Kapitelle und Statuen waren wie von Ruß und Rauch überzogen. Nur in dem schon renovierten Teil, in dem Laurence stand, war alles wieder frisch, hell und strahlend.
Nur einige wenige Besucher gingen schweigend umher. Ein paar Gläubige saßen in stiller Versenkung auf den Bänken. Würde sie einen tragbaren Kompromiss finden können zwischen ihrem Be-dürfnis, allein zu sein, und ihrer Angst, allein gelassen zu werden in dieser Welt, wo es für sie keinen Platz mehr zu geben schien?
Am ersten Abend in der französischen Botschaft in Rhages hatte sie flucht-artig das festliche Abendessen verlassen, das man ihr zu Ehren veranstaltet hatte – ein ›intimes Essen‹ mit einem etwa sechsjährigen Jungen mit grauen Augen und einer stillen Aufmerksamkeit sowie geschwätzigen Erwachsenen, die sich überschlugen in Zuvorkommenheit und Beweisen ihrer Bewunde-rung. Dr. Rudaz hatte sie, die wacklig auf den Beinen war, in das Gäste-appartement begleitet, das aus drei riesigen, luxuriös ausgestatteten Räumen bestand mit bedrohlichen Schränken (die leer waren) und einem Telefon im Badezimmer. Der Arzt hatte ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht und ihr versichert, sie brauche jetzt Ruhe – während sie sich in Wahrheit nichts sehn-38
licher wünschte als eine streichelnde Hand.
Sie war plötzlich schreiend aufgewacht, nackt auf dem Bett ausgestreckt, ohne sich erinnern zu können, dass sie sich ausgezogen hatte. Alle Lichter brannten, und sie ging herum, um sie zu löschen. Die großen, leeren Räume ängstigten sie. Was konnte man tun gegen diese beklemmende Stille? Sie lauschte, doch kein Ton war zu hören. Hatten die anderen Bewohner das Haus verlassen? Sie kämpfte gegen ihre Panik an, zwang sich, nicht erneut zu schreien, stürzte auf die Tür zu und war völlig verblüfft, als sie feststellte, dass diese keineswegs abgeschlossen war.
Der kleine Junge mit den grauen Augen stand draußen auf dem kleinen gefliesten Vorplatz. Er hielt mit einiger Mühe einen jungen, hellbraunen Labrador in den Armen und schaute nachdenklich Laurence an, ohne von ihrer Nacktheit Notiz zu nehmen.
»Sie haben geschrien«, sagte er. »Das war sicher ein Albtraum.«
Sie nickte nur, unfähig, ein Wort herauszubringen. Ihre Augen begannen zu brennen, und sie dachte: »Lange wird's jetzt nicht mehr gehen.« Dabei hatte sie seit vier Jahren keine einzige Träne mehr vergossen.
»Ich leihe ihn Ihnen bis morgen früh«, sagte der Junge und streckte ihr das Hündchen hin. »Er heißt Calamité, aber Sie können ihn auch anders nennen. Er versteht alles.«
»Calamité«, wiederholte sie automatisch und wich einen Schritt zurück vor diesem Tier, dessen Name Unglück bedeutete.
»Es nützt gar nichts, Angst zu haben!«
Der Junge trug den Hund in das Zimmer und machte ihm mit einer Handbewegung klar, dass er dort bleiben solle, während er die Tür von außen hinter sich schloss.
Als er begriff dass man ihn mit der Unbekannten allein ließ, drehte sich der Hund zweimal japsend um sich selbst und verkroch sich dann hinter dem Sofa. Laurence wollte sich wieder hinlegen, aber ein lautes Knacken ließ sie mit einem leisen Angstschrei herumfahren. Sie entdeckte einen 39
langen Riss in der Wand des Vorzimmers; er stieg im Zickzack vom Boden auf und reichte bis zum Rahmen eines alten Stiches. Ganz erstarrt lauschte sie angestrengt auf Anzeichen eines Erdbebens, doch vergeblich. Schließlich sagte sie sich, dass der Riss wohl schon lange da sei und dass sie ihn lediglich jetzt erst entdeckt habe … Aber dieses laute Knacken, das hatte sie doch nicht geträumt! Sie trat an die Wand und betastete sie mit zitternder Hand, musste aber erschreckt feststellen, dass ihre Fingerspitzen ganz gefühllos waren und nichts von einer Vertiefung wahrnehmen konnten. Vielleicht ging der Riss ja nur durch die lavendelfarbene Tapete.
Laurence wollte sich nicht weiter mit diesem Phänomen beschäftigen und wandte sich dem Schlafzimmer zu. Doch in ihren Ohren sauste es, eine Ohnmacht überkam sie, und sie sank auf einem Perserteppich zu Boden. Sie krümmte sich langsam zusammen, als ob sie so wenig Platz wie möglich beanspruchen wollte. Vielleicht aber auch, um besser das Schluchzen unterdrücken zu können, das ihr die Kehle zerrissen hätte, wenn sie ihm freien Lauf gelassen hätte.
Der kleine Hund
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