Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
verließ, unruhig geworden, sein Versteck und schnüffelte winselnd an der Tür. Dann streckte er sich wenige Schritte von Laurence entfernt aus, den Kopf auf die überkreuzten Vorderpfoten gelegt. Plötzlich spitzte er die Ohren, als ob er ein fernes Geräusch, einen Ruf gehört hätte. Er kroch auf die junge Frau zu, während sein aufgerichteter Schwanz wie ein wild gewordenes Pendel hin und her schwang. Dann begann er ihr die Wangen zu lecken.
Laurence wandte ihr Gesicht nicht ab. Sie hob lediglich die Hände ein wenig, die Handflächen nach vorn gerichtet; aber das war keine Geste der Abwehr, sondern vielmehr der Hingabe an diese raue und feuchte Liebkosung.
Als sie am frühen Morgen erwachte, schlief das Hündchen neben ihr, die Schnauze in ihre Achselhöhle gesteckt…
Laurence ging weiter. In der Kirche war selbst im renovierten Teil 40
der Boden mit feinem weißem Staub bedeckt. Auf den ungleichmäßigen Bodenplatten knirschte feiner Sand unter den Schritten. In den durch die farbigen Fenster fallenden Sonnenstrahlen schwebten winzige Staubpartikel. Zum Geruch von Kerzen und Weihrauch mischte sich jener von trockenem Gips. »Jetzt ist sie frei und kann machen, was sie will!«, dachte Laurence. Einmal mehr konnte sie trotz ihres festen Entschlusses ihren Gedanken nicht anders formulieren.
Sie blieb vor einer kleinen Seitenkapelle stehen, deren Wände mit Votivtäfelchen bedeckt waren: »Dank für zuteil gewordene Hilfe!«
Ihr fielen Antoine Beckers Worte ein über den geistlichen Weg seines Sohnes. Jean-Louis, von einem Gnadenstrahl getroffen? Nun ja, warum nicht. Obwohl er sie damals ohne jeden Mystizismus aufs Kreuz gelegt hatte. Bissig und spottlustig war er vielmehr gewesen, ein egozentrischer und großzügiger Verrückter, der in vollen Zügen sein Leben genoss.
Eine Szene trat vor ihr inneres Auge, und die Erinnerung daran (es war das erste Mal, dass sie sie wieder heraufbeschwor) schnürte ihr die Kehle zu. Dabei hatte sie geglaubt, während der fünf Jahre ihrer Gefangenschaft sich bis ins nebensächlichste Detail mit ihren Erinnerungen an glückliche Zeiten beschäftigt zu haben…
Jean-Louis hatte sie in ihrem Hotelzimmer in Rhages besucht, wo sie am Fenster, das auf einen flammenden Sonnenuntergang geöffnet war, an ihrem Bericht arbeitete. Er hatte sich rücklings, die Ar-me weit ausgebreitet, auf ihr Bett fallen lassen und gesagt: »Ich weihe meinen Körper deinem Wissen!« Er lachte dabei aus vollem Hals, während sie nachdenklich lächelte. Ihr Wissen? Auf diesem Gebiet war es eher dürftig.
Seither hatten sich die Dinge stark verändert. Sie war nun nicht mehr unerfahren, nicht mehr schüchtern. Oberst Sheba hatte ihr mancherlei beigebracht.
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Laurence blieb vor einer Konditorei stehen und warf einen un-gläubigen Blick auf das vielfältige Sortiment von Backwaren im Schaufenster. Dann ging sie hinein und bestellte sich einen Windbeutel mit Mokkacremeglasur, jedoch so leise, dass die Verkäuferin sie noch einmal fragen musste. An der Kasse merkte sie, dass sie ihre Handtasche im Büro von Becker hatte liegen lassen und keinerlei Geld bei sich trug. Aber das junge Mädchen, das sie bedient hatte, murmelte der Kassiererin etwas ins Ohr. Deren rundes und rosiges Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln, und sie sagte, ihr das hübsch verpackte Gebäckstück überreichend:
»Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses, Frau Dr. Descombes!
Das ist doch das mindeste …«
Laurence stammelte ein Dankeschön und flüchtete, den Blick zu Boden gerichtet. Sie setzte sich auf einem nahe gelegenen kleinen Platz auf eine Bank und packte den Windbeutel aus, den man mit vier Nusscremeschnörkeln hübsch verziert hatte. Das Wasser lief ihr dabei im Munde zusammen, und sie meinte schon den Geschmack der Mokkacreme auf ihrer Zunge zu spüren. Zwei Tränen rollten über ihre Wangen, während sie noch zögerte, den Leckerbissen zum Mund zu führen.
In diesem Augenblick empfand sie ein so überwältigendes Glücksgefühl, eine so reine und starke Freude, wie sie sie als kleines Kind empfunden und auf geheimnisvolle Weise in einem Winkel ihres Herzens bewahrt hatte. Sie sprang auf und nahm ihren Marsch in Etappen, von einem Punkt des Verschnaufens zum anderen, wieder auf, jede kurze Wegstrecke als ein neues Stück Freiheit erfassend.
Schließlich warf sie das Gebäck in eine Mülltonne, ohne auch nur davon gekostet zu haben.
Die Rue du Petit-Muse war für den Durchgangsverkehr gesperrt worden, und
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