Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
gefallen, dabei kannten wir uns doch kaum. Und sie hat sich sofort an meinen Namen erinnert… Ach, ich bin doch eine rechte Heulsuse …«
Die Sekretärin brach in Tränen aus, und Antoine tat so, als bemerke er ihre Verlegenheit nicht. Er bat sie, sofort Dupuy und Minciotti zu verständigen. Sie sollten schnellstens ein Kommuni-que verfassen und für 15 Uhr eine Pressekonferenz einberufen.
Champagner? Aber natürlich, das war doch ein Anlass dazu. Und an die Wände mussten Plakate von der damaligen Aktion. Blumen-33
bouquets bestellen mit gelben Bändern – gelben, ganz wichtig! Wegen der Fotos musste man nach Pifaretti schicken, aber ohne Blitz bitte, wenn das geht! Organisationsbesprechung dann um 12.30
Uhr, oben im dritten Stock.
Antoine kehrte zu Laurence zurück mit zwei dampfenden Kaf-feetassen auf einem kunstvoll gearbeiteten Tablett, das man ihm bei seiner letzten Mission in Burundi geschenkt hatte.
»Es gibt so viel zu erzählen«, beteuerte er, als er neben der jungen Frau Platz nahm. »Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll…«
»Ich habe genug Zeit«, antwortete sie. »Aber Ihre ist kostbar …«
Er schaute ihr zu, wie sie Zucker in ihren Kaffee tat, umrührte und die Tasse an die Lippen führte. Und dann fiel ihm auf, was sich an ihr verändert hatte: Sie sprach und bewegte sich in einem anderen Rhythmus. Es gab sicher noch anderes, aber das war entscheidend. Als sie sagte, sie habe genug Zeit, war das keine leere Floskel. Antoine, der unter ständigem Zeitdruck stand und ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Verstreichen der Stunden und die Zwänge seines Terminkalenders hatte, empfand es wie einen Schlag, dass Laurence offenbar die Macht besaß, die Zeit anzuhalten. Au-
ßerdem schien sie Schweigen durchaus nicht als unangenehm zu empfinden. Für ihre Antworten ließ sie sich so viel Zeit, dass er sich gelegentlich fragte, ob sie ihn wohl verstanden habe. Seltsam war ihre Begrüßung beim Eintreten gewesen. »Guten Tag, Antoine Becker!«, hatte sie gesagt. Weder »Monsieur Becker« noch einfach
»Antoine«. Und was mochten das für Fragen sein, die sie sich in Bezug auf ihn gestellt hatte? Waren ihr irgendwelche Zweifel gekommen, jetzt schon? Nein, das war unmöglich!
»Wir haben uns natürlich Sorgen wegen Ihrer Gesundheit gemacht«, sagte er schließlich. »Nachdem ich entsprechend gedrängt hatte, durfte ich wenigstens fünf Minuten lang mit Dr. Rudaz von der Botschaft sprechen. Er konnte mich zwar grundsätzlich beruhigen, aber sämtliche Ergebnisse hatte er noch nicht… Aber sagen Sie 34
es mir selbst: Wie fühlen Sie sich denn?«
»Es scheint, dass ich stark an Gewicht verloren habe«, erwiderte sie unsicher. »Das war natürlich die erste Frage des Vertreters des Roten Kreuzes: Ob ich gesundheitlich wohlauf sei. Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Reden wir nicht mehr davon.«
Becker beugte sich wieder vor, um erneut die Hände der jungen Frau zu ergreifen. Diesmal aber war das paradoxerweise eher eine Geste, um Abstand zu bewahren. Diese Begegnung verlief nicht nach seinen Vorstellungen. Er hatte eher den Flughafen im Sinn gehabt: eine jubelnde, begeisterte Menge, die zu Tränen gerührten Eltern Descombes, Journalisten. Gestern hatte er noch Minciotti darum gebeten, ihm eine kurze Ansprache aufzusetzen. Eine gute Gelegenheit war vertan – schade!
»Und Jean-Louis?«, fragte sie.
»Nun, es geht ihm gut!«, antwortete er und begriff nicht so recht, warum ihn diese Frage unvorbereitet traf. »Stimmt ja, ich hatte für einen Augenblick ganz vergessen, dass Sie beide damals bei Ihrer Entführung gemeinsam bei der Cortes-Mission waren. Ich weiß nicht, ob beides zusammenhängt, aber er hatte damals eine Art Nervenzusammenbruch. Er musste ins Krankenhaus und anschlie-
ßend für drei Monate in Erholung …«
Sie schaute ihn erstaunt und mit fragendem Blick an und wollte mehr darüber wissen.
»Ja, mich hat das auch überrascht«, sagte er. »Das passte eigentlich nicht zu Jean-Louis … Oder seine Unbekümmertheit war nur Fassade. Übrigens wurde diese Krise zu einem Wendepunkt in seinem Leben, der Beginn eines geistigen Aufbruchs. Er ist zur Zeit auf Malta tätig … Bestimmt weiß er Bescheid über Ihre Freilassung, die Nachricht davon ging ja um die ganze Welt!«
»Auf Malta?«, fragte sie mit gesenktem Blick.
»In einem alten Kloster … dem Mutterhaus einer Art von universaler Kirche für das Verständnis unter den Völkern. Sagen Sie,
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