Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
45
vier Augen, weil es so leicht zur Diskussion über Themen führen konnte, denen sie lieber auswich. Heute jedoch hatte sie sich dazu entschlossen: Bei dem, was es jetzt zu besprechen gab, konnte man keine Zeugen brauchen. Außerdem stand die Mahlzeit, die Mrs Crichton aufzutischen gedachte, schon längst auf dem Herd. Und wenn der Richter etwas ganz besonders verabscheute, dann waren es Programmänderungen in letzter Minute.
Sie genehmigten sich einen Aperitif im Salon, einem großen Raum, der wie genau zu diesem Zweck eingerichtet schien und zu absolut keinem anderen, schon gar nicht zum Faulenzen oder gemütlichen Beisammensein! Dann gingen sie gemeinsam in das getäfelte Esszimmer, das zusammen mit der Küche ein Heiligtum war, in dem Mrs Crichton als Alleinherrscherin waltete.
Die Beziehungen zwischen Kiersten und ihrem Vater waren nie ganz einfach gewesen. In den letzten Jahren waren sie jedoch aufgrund der beruflichen Entwicklungen noch schwieriger geworden.
Die ausgeprägte Persönlichkeit der jungen Frau, ihr Ehrgeiz und ihre Unbeugsamkeit in moralischen Fragen hatten ihr Feindseligkei-ten bei der Polizei eingebracht. Hatte man nicht getuschelt, ihre familiäre Verbindung zu einem Richter am Obersten Gericht habe nicht unwesentlich zu ihrem beruflichen Erfolg beigetragen? Sie kannte diese üblen Nachreden genau, die sie in höchstem Maße är-gerten. Daher bemühte sie sich ganz besonders, ihren Vater aus allem herauszuhalten, was ihre Arbeit betraf. Ihre Gespräche beschränkten sich denn auch stets auf allgemeine Fragen der Landes-politik und die Tagesereignisse. Aus diesem Grund verdoppelte der Richter auch sofort seine Aufmerksamkeit, als, nach der Fisch-und-Muschel-Suppe und einem Soufflé mit Greyerzerkäse, Kiersten ihm von den Aufgaben zu berichten begann, die ihr neuerdings von Kommissar Clarkson übertragen worden waren.
46
»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, warst du doch bisher mit Aufgaben befasst, die irgendwie mit den besonderen Bedingungen von Frauen zu tun hatten …«
»In gewisser Weise und unter anderem natürlich schon. Daneben mit der bundesweiten Suche nach verschwundenen Kindern, einem das ganze Land überziehenden Netz von Prostitution und Untersuchungen zur Kinderpornografie, nicht zu reden von ähnlich an-rüchigen Aufträgen!«
»Das wusste ich ja gar nicht«, meinte der Richter mit einem kleinen Anflug von Ärger. »Eigentlich schade, denn du hättest mir vielleicht behilflich sein können bei der Abfassung des Urteils in der Sache Grafferstein … Ist dein jetziger Auftrag sozusagen als Erweiterung deiner bisherigen Aufgaben zu betrachten?«
»Sagen wir lieber, eine Ausdehnung ins Widerwärtige und unerträglich… Ich warne dich lieber gleich; eine Erörterung dieses Themas passt eigentlich nicht gut zum Essen.«
»Dann warten wir damit lieber bis hinterher«, antwortete er entschieden.
Sie beendeten also schweigend ihre Mahlzeit, was hin und wieder vorkam und ihren Vater nicht weiter zu stören schien. Für sie war das eher eine anstrengende Prüfung. Sie hörte dabei die vertrauten Geräusche des Hauses, das würdige Ticken der Standuhr im Vorzimmer, das dumpfe Brummen des alten Kühlschranks, das geheimnisvolle Knistern in der hölzernen Täfelung und im Parkett, das sie in ihrer Kindheit so geängstigt hatte. So sehr, dass sie in ihrem Bett auffuhr und ängstlich in die Dunkelheit fragte: »Ist da jemand?«
Gelegentlich hatte sie sogar gefragt »Mama?«, und steif vor Angst darauf gewartet, dass eine eisige Hand sich auf ihre Stirn legte.
William MacMil an hatte sich nie dazu entschließen können, diesen alten viktorianischen Wohnsitz aufzugeben, in dem er zwölf Jahre gemeinsam mit seiner Frau Gwendolyn verbracht hatte und in dem seine einzige Tochter geboren worden und aufgewachsen 47
war. Kiersten hatte sich oft gefragt, wieso er in diesem Haus blieb, das um ein Zehnfaches seinen Platzbedarf überschritt. Im Übrigen beschränkte sie sich bei ihren Besuchen immer streng auf die Räume im Erdgeschoss. Ihr eigenes Zimmer im ersten Stock war völlig unverändert geblieben, seit sie mit neunzehn Jahren auf die Militärakademie von Kingston gegangen war, und sie hatte nicht die geringste Lust, hinaufzugehen. Dazu trug auch bei, dass sie fürchtete, dort oben dem Verlangen nicht widerstehen zu können, den großen Nussbaumschrank zu öffnen, der in der Diele stand.
Schon der Gedanke daran, dass sie dort völlig unberührt die Kleider und
Weitere Kostenlose Bücher