Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
gewählt hatte, um die Ausstrah-lungskraft El Guías zu voller Wirkung kommen zu lassen. Noch hatte er kein einziges Wort gesprochen, als in Neapel die Teleobjektive der dortigen Kameras schon die entrückten Gesichter im Stadion zeigten.
Laurence drehte sich um, als sie eine Luftbewegung in ihrem Nacken spürte. Gabriella stand mit weit aufgerissenen Augen hinter ihr. Auf sie verfehlte offenbar der charismatische Einfluss des Patriarchen seine Wirkung. Sie verzog schmerzlich das Gesicht und drückte in einer impulsiven Geste ihre Faust gegen den Mund.
Dann richtete sie sich hoch auf, wie um einen Fluch abzuschütteln, und rannte, Sandrine auf den Fersen, eilends hinaus.
Laurence zögerte noch, ihnen zu folgen. Sie beobachtete Kiersten, die sich mit gequältem Gesichtsausdruck in ihren Sessel drückte.
D'Altamiranda hatte zu sprechen begonnen. »Ich kann das nicht ertragen«, gestand sie sich ein, gegen ein Unwohlsein ankämpfend.
Sie erhob sich geräuschlos und verließ das Büro. In Maghrabi hatte sie gelernt, dass auch die Flucht eine kühne Tat sein konnte.
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Gabriel a saß am äußersten Ende der Galerie mit versteinertem Gesicht auf einer Stufe. Sandrine versuchte, unglücklich und verstört, sie zum Reden zu bringen.
»Sie sagt, dass D'Altamiranda jetzt gewonnen habe!«, erläuterte sie Laurence, die zu den beiden getreten war. »Er hat ihr Schlimmes angetan, ich wage gar nicht, Ihnen davon zu erzählen …«
»Das ist auch nicht nötig, ich weiß darüber Bescheid.«
»Wenn ich sie wenigstens zum Weinen bringen könnte! Das würde sie erleichtern …«
»Glaubst du? Es ist vielleicht noch zu früh für Tränen …«
»Was aber dann?«
»Geh mit ihr tief in den Park hinein. Und bring sie dort dazu, aus voller Kehle zu schreien! Notfalls musst du ihr zeigen, wie das geht.«
»Schreien? Aber wie? Ich weiß nicht, ob …«
»Dann lernt ihr es eben gemeinsam. Schwierig ist nur der Anfang: Man muss erst einmal den Pfropfen lösen. Dann kommt es von alleine: die Wut und die Auflehnung! Du wirst schon sehen …«
»Einverstanden, ich habe begriffen! Man kann es ja immerhin versuchen. Übrigens wollte ich Ihnen sagen …«
Es folgte ein Schweigen.
»Ja?«
»Nichts! Es ist wohl kaum der rechte Moment dafür …«
Kiersten tauchte in der geöffneten Fenstertür auf. Sie machte Laurence Zeichen, dass sie ins Büro zurückkehren solle. Schnell!
»Das müssen Sie gesehen haben!«, beteuerte sie, ihr entgegen-eilend. »Da spielt sich Unglaubliches ab!«
Laurence spürte sofort, als sie hinter ihr wieder in den Raum trat, dass die Stimmung der Menschen hier sich völlig verändert hatte.
Die Niedergeschlagenheit war einer Mischung aus ungläubigem Staunen und Erleichterung gewichen. Sanguinetti, Buglione, Lydia und MacMillan hatten sich in ihren Sesseln vorgebeugt und ver-508
folgten mit weit vorgereckten Köpfen gebannt die Bilder, die da vor ihnen abliefen.
Was geschah da in Neapel im Giuseppe-Lombardi-Stadion! Die dort versammelte Menge war unverkennbar von einer Woge der Verunsicherung erfasst, einem erschreckten Unbehagen, das sich rasch verstärkte. Das Schweigen war nicht mehr ungestört, die Versenkung war deutlich gelockert, man wechselte fragende, beunruhigte Blicke. Der Bann der ersten Minuten zerbröckelte allmählich, aber unaufhaltsam.
»Der große Guru ist heute nicht in Form«, murmelte Lydia.
»Das ist noch das Mindeste, was man dazu sagen kann«, bestärkte Kiersten sie. »Da merkt man sofort, dass Jean-Louis Becker fehlt, der sonst die Fäden in der Hand gehalten hätte. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür!«
»Das glaube ich nicht«, meinte Buglione. »Der wahre Meister ist ja doch D'Altamiranda selbst. Nein, da muss noch was anderes sein…«
»Er scheint selbst nicht überzeugt zu sein von dem, was er da sagt«, gab Richter MacMillan nachdenklich zu bedenken. »Das steht in heftigem Widerspruch zu allem, was ich bisher über ihn ge-hört habe … Wenn es eine Zeugenaussage wäre, würde kein Gericht der Welt ihm auch nur ein Wort glauben.«
»Schaut ihn euch an!«, rief Laurence erregt. »Der lügt mit jedem Atemzug! Das ist unmöglich!«
Kiersten fuhr zusammen und schaute zu dem zweiten Fernsehschirm hinüber. Die Großaufnahme El Guía Supremos ließ keinen Zweifel. Seine Züge hatten einen Anflug von Verschlagenheit und Falschheit – nur geringfügig zwar, aber doch unübersehbar. Und was seine tiefe Stimme betraf, erweckte auch sie nicht mehr absolutes
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