Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Vortrag über seine Tätigkeit vor den führenden Leuten der GRC, der Königlich Kanadischen Polizei, halten solle. Mit leicht sarkastischem Unterton setzte er hinzu, dass sie doch sicher als Mitglied des Führungsgremiums der Abteilung eine entsprechende Einladung erhalten habe.
»Ja, ich erinnere mich undeutlich daran, dass da eine Aktennotiz im Umlauf war. Aber nachdem ich nicht unbedingt ein Technolo-giefan bin…«
»In diesem Fall wäre das Wegbleiben ein echter Fehler! Ich habe mir sagen lassen, dass der Bursche an einer neuen Erfindung bas-telt, die man sich bisher gar nicht vorstellen konnte. Es geht da wohl um eine Art von Super-Lügendetektor, absolut revolutionär …«
Thierry Bugeaud, Experte für Multimedia-Technologie, war von der Königlich Kanadischen Polizei eingestellt worden, um für sie ein System zu entwickeln, das es ermöglichen sollte, innerhalb von wenigen Minuten das Phantombild eines Verdächtigen zu vergleichen mit Zehntausenden im Zentralregister gespeicherten Fotos. Die erfolgreiche Erfüllung dieses Auftrags hatte ihm ein ansehnliches Forschungsstipendium der Nationalstiftung zur Förderung Ange-wandter Informatik beschert, und er hatte sich zur allgemeinen Überraschung dazu entschlossen, bei der GRC zu bleiben und sich für das Geld ein kleines Entwicklungslabor in den Räumen der wissenschaftlichen Abteilung der Behörde selbst einzurichten.
Thierry sah aus, als ginge er auf die Dreißig zu, tatsächlich hatte er sie bereits seit vier Jahren hinter sich. Er war in Kanada geboren, als Sohn französischer, ehemals in Algerien ansässiger Einwanderer, und hatte graugrüne, ein wenig schlitzförmige Augen. Diese gingen zurück auf einen bretonischen Großvater einerseits und eine indo-123
chinesische Großmutter andererseits. Er war schlank und wirkte in seinem Auftreten lässig, doch das täuschte: er bewies unermüdliche Ausdauer und Beharrlichkeit. Bei der GRC war er der absolute Hahn im Korb bei den Sekretärinnen, denn er hatte bisher noch jeden Computer, der ihnen abgestürzt war, wieder in Gang gebracht.
Böse Zungen behaupteten, dass all diese Damen ihn völlig vergebens anschwärmten, weil ihn schmucke junge Polizeioffiziere viel mehr interessierten. Kiersten kam bewusst zu spät zur Vorstellung von Pinocchio. Dieser neu entwickelte Lügendetektor, der angeblich unfehlbar war, interessierte sie nicht sonderlich.
Gleich beim Eintritt in den Vorführraum spürte sie, dass eine gewisse Feindseligkeit in der Luft lag. Ein gutes Dutzend führender Polizeileute hörte mit reserviertem Gesichtsausdruck dem Vortra-genden zu. Was sie selbst betraf, war sie zunächst einmal überrascht: Sie hatte mit der Vorstellung einer komplizierten elektronischen Apparatur gerechnet, während dieser Thierry Bugeaud zur Demonstration lediglich einen großen Videomonitor benutzte –
den gleichen, den sie vor ein paar Wochen dazu verwendet hatte, um Doug Murphy, Paul Bourdages und Ada Nalukturuk jene Snuffs vorzuführen.
Die Grundüberlegung für das System war verhältnismäßig einfach. Bugeaud hatte die Videoaufnahmen der Verhöre von rund hundert Verdächtigen gesammelt, deren Aussagen später durch Tatsachen entweder bestätigt oder widerlegt worden waren. Diese Aufnahmen waren, nach Bild und Ton getrennt, durchnummeriert und dann durch einen Raster von Computerprogrammen geschickt worden.
Mit einer bisher nie erreichten Präzision maß Pinocchio nun Tonhöhe und Lautstärke, Veränderungen im Sprachfluss, Atemrhyth-mus und Wortabstände fast auf Millisekunden genau. Auf gleiche Weise wurden Veränderungen im Gesichtsausdruck vermessen: Wimpernschläge, Bewegung der Augäpfel usw.
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Lester Clarkson hob die Hand, um Bugeauds Erläuterungen zu unterbrechen.
»Sie haben soeben von der sozusagen ›absoluten Verlässlichkeit‹
ihrer… ja, ihrer ›Algorithmen‹ gesprochen«, sagte er mit leicht ge-kräuselten Lippen. »Was genau ist darunter zu verstehen, bitte?«
»Keiner der Verdächtigen, die falsche Angaben gemacht haben, konnte Pinocchio täuschen. In Zahlen ausgedrückt, lag bei dieser Versuchsreihe die Fehlerquote bei Null.«
»Bei dieser Versuchsreihe«, wiederholte der Kommissar mit gerun-zelten Brauen. »Und bei umfassender Anwendung?«
Bugeaud versicherte mit ruhiger Gewissheit, dass grundsätzlich die Fehlerquote des Systems bei weniger als einem Prozent liegen würde. Seine Antwort löste Proteste und sarkastische Bemerkungen aus. Die Zuhörer fühlten sich dazu
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