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Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Titel: Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fuenfte Offenbarung
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Dokumentation klar sein sollte, ja! Aber der beklagenswerte Effekt des Perversen beeinträchtigt vielleicht seine Fähigkeit, zwischen Ursachen und Wirkungen, zwischen dem Fiktiven und dem Realen zu unterscheiden…«
    »Und was dann?«, fragte sie ungeduldig.
    Der alte Herr runzelte die Brauen, als ob er sich genau die gleiche Frage stelle.
    »Gib mir ein paar Minuten Zeit für einen Exkurs, der uns jedoch Zeit spart! Vor einer Woche wurde ich auf dem Weg in mein Büro Zeuge eines Unfalls. Ein Schüler wurde von einem Auto erfasst…
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    Schwer verletzt, starb er auf dem Transport ins Krankenhaus. Das Quietschen der Reifen, das Geräusch des Aufpralls, das Zucken des mitten auf der Straße liegenden Körpers und dann dessen schreckliche Unbewegtheit… diese Details treten mir immer wieder vors Auge, bei den unpassendsten Gelegenheiten. Mein Freund Danse-reau nennt das ›Rekursionsstörungen‹ und rät mir, mich nicht dagegen zu sträuben, weil das ihr Verschwinden beschleunige …«
    Kiersten war bewegt sowohl von der Schilderung an sich als auch durch das, was diese über ihren Vater verriet. Aber hatte sie jemals an seinem Mitgefühl gezweifelt?
    Nur scheinbar jäh das Thema wechselnd, berichtete der Richter sodann von einer Fernsehreportage, die er kürzlich gesehen habe.
    Darin habe man eine alte Frau gezeigt, in Wahrheit erst zwanzig Jahre alt, die versucht habe, einem zum Skelett abgemagerten Säugling die Brust zu geben. Dieser habe nicht einmal mehr die Kraft zum Saugen gehabt und sei mit einem Laut wie ein Schluckauf verschieden. Unerträgliche Bilder …
    »Dennoch habe ich eine Stunde später nicht mehr daran gedacht und bin mühelos eingeschlafen! Verstehst du, was ich meine? Innerhalb weniger Tage habe ich den Tod eines unbekannten Kindes miterlebt. Der auf dem Bildschirm gesehene Tod war nicht weniger wirklich als der, dessen Zeuge ich dort auf der Straße wurde. Aber real war für mich der Letztere. Das ist der perverse Effekt, von dem ich vorhin gesprochen habe: Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit sind eben nicht das gleiche.«
    »Das begreife ich alles«, sagte Kiersten. »Aber worauf willst du hinaus?«
    »Wenn mir das, wovon ich weiß, dass es tatsächlich so geschieht, nicht real erscheint, wie soll ich es da unterscheiden können von etwas Fiktivem? Der Unterschied ist zwar fassbar auf der intellektuellen Ebene, aber nicht auf der Gefühlsebene. Auf der intellektuel en Ebene lege ich den Maßstab meiner Wertvorstellungen an, aber die 121

    Entscheidung darüber, ob ich ihn anwende, treffe ich auf der Ge-fühlsebene. Kannst du nachvollziehen, dass wir hier beim Kern-problem dieser Snuffs sind?«
    In diesem Moment trat Francesco mit der Dessertkarte heran, und Kiersten war froh über diese Unterbrechung. Gerade hatte sie das flüchtige Bedürfnis gefühlt, ihre Hand auf die ihres Vaters zu legen. Was nur stimmte einfach nicht bei ihr?
    Der Stellvertretende Inspektor Julien Boniface stand in dem Ruf, Antworten auf direkte Fragen nur mit begleitenden Anmerkungen geben zu können, die leicht die Form eines Leitartikels annahmen.
    Wenn man im Amt davon sprach, verglich man ihn gerne mit jenem Jesuiten, dem es unmöglich war, einem Passanten, der sich verlaufen hatte, den richtigen Weg zu weisen – einfach deswegen, weil dieser schnurgerade war.
    Nach ihrer Rückkehr vom Mittagessen fragte ihn Kiersten nach dem Sicherungssystem des Informationsnetzes der Königlich Kanadischen Polizei. Sich völlig treu bleibend, erläuterte Julien:
    »Was man zunächst einmal auf keinen Fall tun darf: sich an Van Leuwen wenden, den dafür Zuständigen! Der belabert Sie zwei Stunden lang, und Sie fragen sich hinterher, in welcher Sprache er überhaupt geredet hat. Und je einfacher das Problem ist, das Sie ihm vorlegen, desto komplizierter wird sein Vorschlag zur Lösung sein!«
    »Danke – oder besser: Nein danke! Was also soll ich machen?«
    »Der Bursche, an den Sie sich wenden müssen, ist Thierry Bugeaud von der wissenschaftlichen Abteilung. Der ist ein kleines Genie auf seinem Fachgebiet! Wenn der Ihnen nicht helfen kann, dann kann es keiner in diesem Laden hier. Aber machen Sie das bloß unauffällig! Van Leuwen ist derart eifersüchtig auf die Wah-rung seiner Stellung bedacht, dass er sich an höherer Stelle be-schweren wird, wenn er etwas davon erfährt!«
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    Julien kam gegen Ende des Nachmittags noch einmal bei ihr vorbei, um ihr zu sagen, dass dieser Bugeaud zufällig gerade am folgenden Tag einen

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