Bin ich hier der Depp
analysiert in seinem Buch »Das erschöpfte Selbst«, warum immer mehr Menschen in den Abgrund von Burn-out und Depression blicken: [144] Der gesellschaftliche Druck treibt sie dorthin. Sie rennen, ohne zu ruhen. Sie schuften, ohne zu schlafen. Sie powern, ohne zu pausieren.
Und niemand weiß mehr genau, was zu tun ist, weil die Regeln abhandengekommen sind, die klaren Gebote und Verbote. Aber jeder weiß, dass mehr zu tun ist, als er bewältigen kann. Das Leben eines Menschen schnurrt zusammen auf seine Leistung. Jeder ist, was er leistet. Wer nichts mehr leistet, ist ein Nichts.
Die Arbeit, einst von Gott als Strafe verhängt, als Sanktion für Evas Apfelgriff, als Vertreibung aus dem Paradies, wird zu einem Ticket, das jeder lösen muss, der die Party der Gegenwart mitfeiern will. Der Preis für dieses Ticket ist hoch, und er wird nicht nur am Arbeitsplatz fällig.
Das Leben ist zu einem Leistungskurs geworden, zu einem Kampf gegen die eigene Trägheit, gegen Schwäche, gegen Müßiggang. Es geht nicht mehr darum, gut zu sein, sondern: besser! Es geht ums Posieren, um die Anerkennung von außen, die mit der inneren Anerkennung verwechselt wird.
Eltern kämpfen darum, ideale Eltern für ihre Kinder zu sein – bloß keine Fehler machen. Schüler kämpfen darum, ideale Schüler für ihre Lehrer zu sein – bloß keine Fehler machen! Wer joggt, läuft seiner Traumfigur entgegen, mindestens Marathondistanz. Wer baut, baut sein Traumhaus, mindestens so groß wie das des Nachbarn.
Gesichter werden von Schönheitschirurgen zerschnitten und neu geformt, Nasen verkleinert, Brüste vergrößert, nur weil Menschen ihr Leben als einen Laufsteg, einen einzigen (Schönheits-)Wettbewerb sehen. Nicht einmal der Sex darf einfach Sex sein, er gerät zum Leistungssport, zu einem Schaukampf, bei dem unklar ist, ob miteinander oder gegeneinander.
Wer in den Spiegel schaut, schaut mit den Augen der anderen: mit den Augen seines Chefs, seines Nachbarn, seines Lehrers. Die eigenen Augen zählen nicht mehr, die Maßstäbe kommen von außen. Die Ausbeutung der Menschen geschieht nicht mehr durch äußeren, sondern durch inneren Zwang. Der Mensch ist ein animal laborans, ein Arbeitstier: immer im Dienst einer Sache, nie im Dienst seiner selbst.
In seinem brillanten Essay »Müdigkeitsgesellschaft« beschreibt der in Berlin lehrende Philosoph Byung-Chul Han den infamen Mechanismus, der die (Hamster-)Räder der modernen Arbeitswelt antreibt: »Der Wegfall der Herrschaftsinstanz führt nicht zur Freiheit. Er lässt vielmehr Freiheit und Zwang zusammenfallen. (…) Der Exzess der Arbeit und Leistung verschärft sich zu einer Selbstausbeutung. Diese ist effizienter als die Fremdausbeutung, denn sie geht mit dem Gefühl der Freiheit einher. Der Ausbeutende ist gleichzeitig der Ausgebeutete. Täter und Opfer sind nicht mehr zu unterscheiden.« [145]
Han weist darauf hin, dass Neues und Bedeutendes nicht beim schnellen Rennen entsteht, sondern beim Innehalten. Wer entspannt, wer schläft und träumt, dessen Gedanken können ausschweifen auf neue Wege. Wer dagegen mit Hochgeschwindigkeit durchs eigene Leben rast, voll konzentriert, voll ausgelastet, voll eingespannt, der ist so sehr damit beschäftigt, seinen Lebenswagen auf der Straße zu halten, dass er alle Abzweigungen übersieht. Und erst recht die schönen Anblicke am Wegesrand.
»Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei«, schrieb der englische Autor George Orwell. Wer mehr erreichen will, muss langsamer laufen.
Der Weg zur Erfüllung
Gerade Menschen, die mit Vollgas arbeiten, kriegen die Kurve zu einem neuen Arbeitgeber oder einer neuen Arbeitsform nur selten. Der Grund ist banal und doch einleuchtend: Vor lauter Arbeit fehlt ihnen die Zeit, sich ausdauernd um eine andere Tätigkeit zu kümmern. Die Kraft, die sie für ihre Veränderung bräuchten, nutzen sie (unbewusst) dazu, um den veränderungswürdigen Zustand zu erhalten.
Der tägliche Stress hält sie auf Kurs, bis die Erschöpfung sie ausbremst. Dann bleiben sie auf dem Standstreifen der Leistungsautobahn liegen. Nun hätten sie endlich Zeit, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Doch jetzt fehlt ihnen die Kraft für die Veränderung!
Wir leben in der Zeit der Steigerungsform. Die Aktivität hat sich zur Hyperaktivität aufgeschwungen, der Star muss ein Superstar sein, von ganz Deutschland gesucht, der Mitarbeiter ein Spitzen-Mitarbeiter, der Verkäufer ein Top-Verkäufer. Das
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