Bin ich hier der Depp
nicht mehr gefettet, sondern angeklickt worden.
Viola Steiner konnte es nicht lassen: Mit der Suchfunktion stöberte sie die Mail mit ihrem Marketing-Konzept auf. Ungelöscht war sie. Und ungelesen!
Die meisten Mails seiner Mitarbeiter sah der Abteilungsleiter wohl als Spam, als digitalen Müll, der derart stank, dass er ihn nicht einmal anfassen und im Papierkorb entsorgen wollte. Was wichtig war, würde schon für mündliche Nachfragen sorgen (womit er gar nicht so Unrecht hatte!). Von seinen Mitarbeitern hatte er nichts zu befürchten. Dagegen hätten Beschwerden von Kunden, oder gar ignorierte Mails seines Chefs, an seinem Stuhl wackeln können.
Was die Kanonenkugel für den Baron Münchhausen war, sind die modernen Medien für die Chefs: eine Einladung zum Lügen. Eine Umfrage der German Consulting Group unter 417 Führungskräften hätte den Lügenbaron frohlocken lassen: Drei von vier Vorgesetzten flunkern nicht nur gelegentlich, sondern häufig oder sehr häufig in Mails. Bei SMS sind es sogar 81 Prozent! [67]
Wer eine Mail oder eine SMS seines Vorgesetzten bekommt, dem müsste das System eigentlich anzeigen: »Sie haben eine neue Lüge!«
Offenbar laden die schnellen Medien, deren Botschaften wie Rauch verfliegen, auch zum schnellen Lügen ein. Schließlich nehmen es die Mailschreiber mit nichts genau, nicht mit der Anrede, nicht mit der Rechtschreibung, nicht mit der Interpunktion – warum dann mit der Wahrheit? Weil die Mail kein echtes Gespräch ist, soll die Lüge per Mail wohl auch keine echte Lüge sein.
Außerdem geht es Führungskräften wie ihren Mitarbeitern: So viele Mails, so viele SMS , so viele Arbeiten prasseln täglich auf sie ein, dass ihnen die Lüge als ein legitimer Befreiungsschlag gegen die Überforderung erscheint.
Und es klingt nun mal wesentlich besser, die versäumte Antwort auf eine Mail mit einem Serverproblem zu erklären, als ehrlich zu schreiben: »Ich bekomme zu viele Mails und bin überfordert!« Der Hinweis auf ein angebliches Funkloch scheint gegenüber dem eigenen Chef eleganter als die Aussage: »Ich habe mein Handy einfach ausgeschaltet, weil meine Nerven am Ende sind und ich Ruhe brauchte.«
Vor rund 100 Jahren gab der französische Schriftsteller Marcel Proust noch an seine Gastgeber durch: »Kommen unmöglich, Lüge folgt!« Heute folgt nichts mehr, denn SMS heißt: S chnell m al s chwindeln!
Hamsterrad-Regel: Die Kunst des Mailens besteht darin, sich dabei nicht stören zu lassen. Am wenigsten von seiner Arbeit!
Arbeitest du schon – oder mailst du noch?
Was tat der Mensch in der Frühzeit, wenn er mitten im Wald ein Knacken neben sich im Gebüsch vernahm? Er reagierte blitzschnell: fixierte die Gefahr, spannte seine Muskeln, hob seine Keule und war bereit, mit einem Säbelzahntiger zu kämpfen. Hätte er das Knacken ignoriert, wäre ihm die Chance entgangen, sein Leben zu verteidigen.
Was tut der moderne Büromensch, wenn er, mitten in einer Arbeit, das hohe »Pling« einer eingehenden Mail vernimmt? Er reagiert blitzschnell: fixiert seinen Bildschirm, ruft die Mail ab und ist bereit, die Neuigkeit aufzusaugen. Hätte er das »Pling« ignoriert, wäre ihm die Chance entgangen, eine wichtige Nachricht zeitnah zu empfangen. Das hätte zwar nicht sein Leben, aber (scheinbar) seinen Job gefährdet.
Das Überlebensprogramm der Evolution, seit Jahrtausenden eingespielt, läuft noch immer in unseren Köpfen ab: Jede Neuigkeit, jedes Geräusch, jede Bewegung in unserer Nähe muss sofort registriert werden – denn sie kann Gefahr bedeuten. Jedes Mal wird unser Körper für einen Kampf oder eine Flucht gerüstet: Das Herz beschleunigt, der Blutdruck steigt, der Atem geht schneller. Unsere Wahrnehmung verengt sich auf die (vermeintliche) Gefahr.
Mit demselben starren Blick, mit dem wir einst dem Säbelzahntiger ins Auge sahen, fixieren wir heute die frisch eingegangene Mail. Der gefährliche Unterschied: Die Stresshormone, die der Tiger auslöste, wurden vom Körper sofort abgebaut, indem wir gekämpft haben oder geflohen sind. Und der Spannung folgte eine Entspannung, weil wir uns danach ausruhten.
Ein Mailfach, in dem es pro Tag 80 Mal »Pling« macht (während man ahnt, dass es keine guten Nachrichten sind!), simuliert 80 Säbelzahntiger-Angriffe. 80 Mal schrecken wir für eine Millisekunde hoch, 80 Mal sind wir alarmiert, 80 Mal verspüren wir den Impuls, sofort zu reagieren. Der Körper wird vollgepumpt mit Stresshormonen. Aber wohin damit?
Kampf oder
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