Bin ich hier der Depp
Flucht, um den Stress abzubauen, gestalten sich schwierig. Wer seine Mails mit der Keule bearbeitet, muss damit rechnen, dass er unverzüglich in eine andere Abteilung versetzt wird: die geschlossene. Und auch die Idee, beim Eingang einer Mail über die Treppe drei Stockwerke nach unten zu fliehen, könnte das eigene Stressmanagement in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen.
Nicht der Mitarbeiter bestimmt über die modernen Medien, die modernen Medien bestimmen über ihn. Sieben von zehn Mitarbeitern rufen neue Mails sofort ab, wie eine Studie der Consulting-Firma SoftTrust belegt. [68] Jede Spam-Mail, jede Abwesenheitsnachricht, jeder Pipifax schafft es, Menschen aus ihrer Arbeit zu reißen und für 25 Minuten zu unterbrechen, ehe sie zurück an ihre alte Aufgabe kehren.
Dabei wird ein beachtlicher Korridor an Arbeitszeit verbrannt. Bei der Befragung von 180 Führungskräften, auch aus Deutschland, fanden Forscher des Henley Management Colleges heraus, dass eine Führungskraft im Schnitt dreieinhalb Jahre ihres Lebens mit unwichtigen oder überflüssigen Mails vergeudet. [69]
Die Art, wie Unternehmen Mails einsetzen, erinnert mich an die Geschichte eines Bekannten. Sein Häuschen lag am Rande einer großen Stadt. In dieser Gegend wurde oft eingebrochen. Deshalb legte er sich einen Dobermann als Wachhund zu. Aber der Hund, statt das Haus zu bewachen, spannte den Mann ein: Jeden Abend, wenn mein Bekannter von der Arbeit kam, ließ der Dobermann nicht eher locker, ehe sein Herrchen mit ihm mindestens eine Stunde vor die Tür ging.
Und eines Abends im November, als der Hundehalter mit seinem Dobermann vom langen Spaziergang zurückkehrte, erwartete ihn eine böse Überraschung: Einbrecher hatten sein Haus ausgeräumt. Ohne Hund wäre er zu Hause und auf der Hut gewesen.
Der Hund war heimlich zum Halter seines Herrchens geworden – so wie die Mail heimlich zum Diktator des modernen Angestellten wird. Und wie der Hund heraufbeschwor, was er hatte verhindern sollen, den Einbruch – so beschwören die Mails herauf, was sie verhindern sollen: ineffizientes Arbeiten.
Aber wer einen Hund hat, fühlt sich erst mal sicher. Und wer mailt, empfindet sich als schnell und effektiv. Schein statt Sein – darum lieben die Firmen das Mailen so. In Abwandlung des Aphoristikers Gerhard Uhlenbruck könnte man sagen: »Was manche Firmen sich selber vormachen, das macht ihnen so schnell keiner nach.«
Der langjährige Mitarbeiter eines Softwarekonzerns beschrieb mir folgendes Erlebnis. Er sollte eine neue Abrechnungssoftware für einen Kunden entwickeln. Es gab ein Kick-off-Meeting, bei dem alle Abteilungen am Tisch saßen. Alles schien geklärt, und mein Klient wollte loslegen.
Doch dann hagelte es Mails: Der Kunde schickte »mal eben« ein paar Detailvorschläge rüber, von denen beim Meeting noch nicht die Rede gewesen war – und wünschte eine Stellungnahme. Sein Chef bat »mal eben« darum, er möge ihm schnell ein kleines Strategiepapier schreiben, wie sich diese Software dem Massenmarkt anpassen ließe (denn er hatte einen Termin bei der Geschäftsführung). Und der Controller, beim Meeting noch friedlich, klang jetzt, mit seinem Chef im Verteiler, ganz anders: Er forderte ihn auf, sein über den Daumen gepeiltes Budget durch eine Aufstellung von Einzelpositionen zu detaillieren, bitte jeweils mit Risikoanalyse. Und so weiter.
Dem Software-Entwickler kam es vor, als verfolge die ganze Firma nur noch ein Ziel: ihn von der Arbeit abzuhalten. Statt mit der eigentlichen Arbeit zu beginnen, reagierte er auf Mails. Zuerst wollte er sich um das Strategiepapier für seinen Chef kümmern (denn der ging immer davon aus, dass seine Mitarbeiter nur auf Arbeiten von ihm warteten!). Diese Aufgabe nahm ihn längere Zeit in Anspruch.
Derweil wurden die anderen Mailpartner ungeduldig. Mit neuen Mails hakten sie nach, um zu mahnen. Aber weil sie mahnten, kam er noch weniger zum Arbeiten. Menschen, die eigentlich mit dem Projekt gar nichts zu tun hatten, mischten sich ein. Der Chef des Controllers sprang seinem Mitarbeiter zur Seite, um Druck zu machen – ein regelrechter Mail-Tsunami flutete das elektronische Postfach.
Nun musste der Entwickler schnell antworten, um eine weitere Eskalation zu verhindern – worauf sein Chef wiederum mehrfach nachhakte, wo das Strategiepapier denn bleibe. Der Mitarbeiter erinnert sich: »Wenn ich an einer Stelle auf die Mails geantwortet hatte, flogen mir an der anderen Stelle schon drei, vier neue
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