Bin ich hier der Depp
sich an das Gegenteil zu gewöhnen!
Sören Maier, Buchhalter
Wie ich per Mail das Management beschimpfte, ohne geschimpft zu haben
Die Mail trug meinen Absender, beschimpfte das Management und war an einen Verteiler gerichtet, mit dem sich ein Gemeindesaal hätte füllen lassen. Ja, es stimmte, ich lag mit der Firma im Clinch; es hatte mehrere Prozesse gegeben. Und ja, ich hielt unsere Manager für Pfeifen. Aber eines stimmte nicht: dass ich diese Mail geschrieben hatte.
Von meiner Mailadresse war sie verschickt, wahrscheinlich auch an meinem PC geschrieben worden. Um 18.15 Uhr. Eine Viertelstunde vorher hatte ich die Firma verlassen.
Als ich am nächsten Morgen in der Firma kam, las ich die empörten Antworten. Mein Chef platzte als wanderndes Schnellgericht in mein Büro. Er wedelte mit einem Brief, wahrscheinlich meiner Kündigung.
»Jetzt reicht es! Jetzt haben Sie den Bogen überspannt!«
»Diese Mail habe ich nicht verschickt.«
»Das ist doch Ihr Absender! Das ist doch Ihr Name! Jetzt erzählen Sie mir keine Märchen. Stehen Sie zu dem, was Sie getan haben!«
»Die Mail wurde um 18.15 Uhr verschickt. Zu dieser Zeit war ich schon im Fitnessstudio. Das lässt sich nachweisen, ich habe mich dort eingeloggt.«
Er plusterte sich noch einmal auf. »Das ist doch unglaubwürdig! Wer sollte einen Grund haben, in Ihrem Namen die Firma zu beschimpfen?«
»Zum Beispiel die Firma selbst. Sie sucht doch nach Entlassungsgründen. Ich wäre niemals dumm genug, solche Gründe frei Haus zu liefern!«
Ich bot ihm an, den Vorfall gerichtlich klären zu lassen. Wütend stampfte er aus dem Raum und nahm den Brief mit. An einer offiziellen Untersuchung war ihm nicht gelegen, denn mein Alibi war wasserdicht. Zu gern hätte ich gewusst, wessen Fingerabdrücke sich auf meiner Tastatur gefunden hätten. Ich schätze: seine eigenen!
Miguel Alvarez, Elektrotechniker
Nachtwächter vorm Computer
Die Schlagzeile von bild.de machte allen Mitarbeitern, die kurz vorm Durchdrehen standen, neue Hoffnung: »Immer mehr Firmen stoppen E-Mail-Wahnsinn«. [70] Verblüfft erfuhren die Leser, welche Top-Firmen sich gegen dienstliche Mails in der Freizeit aussprachen, unter anderem VW, Daimler, Telekom, BMW, Deutsche Bank, Bayer und Siemens.
Als Freiheitskämpfer für Mitarbeiter gaben sich die Firmen aus: »Niemand verlangt, Mails unterm Weihnachtsbaum zu checken«, trällerte Siemens. »Wir erwarten von unseren Mitarbeitern nicht, dass sie nach Feierabend und im Urlaub erreichbar sind«, behauptete BMW . Und auch die Deutsche Bank sang das hohe Lied der Freizeit: »Grundsätzliche Erreichbarkeit während der Urlaubszeit ist nicht vorgesehen.«
Mehr noch: VW und Daimler, die beiden Autokonzerne, rasten mit Vollgas vorweg in Richtung Work-Life-Balance. Bei VW werden seit Ende 2011 nach Feierabend keine Mails mehr an die Blackberrys der Mitarbeiter weitergeleitet. Und Daimler versprach seinen Mitarbeitern im Herbst 2012, sie könnten alle Mails, die während ihrer Abwesenheit eingehen, bald automatisch löschen.
Die Firmen: zur Vernunft gekommen? Der Mail-Wahnsinn: gestoppt? Die Mitarbeiter: befreit aus der digitalen Sklaverei?
Da ich etliche Mitarbeiter der genannten Firmen berate, weiß ich genau: Der E-Mail-Wahnsinn ist auf dem Vormarsch, nicht im Rückzug. Doch warum sollten Firmen öffentlich bekennen, dass sie gegen das Arbeitsschutzgesetz verstoßen? Wer Mitarbeiter über den Feierabend hinaus beansprucht, bindet das der Öffentlichkeit nicht auf die Nase.
Im Gegenteil: Wie einige Steuerhinterzieher behaupten, sie unterstützten Waisenkinder in Luxemburg, statt dort Geld zu horten, so spielen sich einige Schinder-Firmen zu weißen Rittern auf, die couragiert die Freizeit ihrer Mitarbeiter gegen dienstliche Mails verteidigen. Wölfe im Schafspelz.
Das ist ja gerade der Witz: Offiziell erwartet keine Firma, dass Mitarbeiter nach Dienstschluss ihre Mails noch abrufen. Offiziell ist der Feierabend noch Feierabend, der Urlaub noch Urlaub. Offiziell müssten am Montag bestens erholte Strahlemänner in die Firma spazieren. Offiziell! Kein Regelwerk wird verletzt, kein Betriebsrat erzürnt, kein Anwalt auf den Plan gerufen.
Doch ein Wort fällt in den Stellungnahmen der Firmen auf: »grundsätzlich«. Wer sagt, Mitarbeiter müssten ihre Mails nicht grundsätzlich in der Freizeit checken, wie die meisten Firmen, sagt damit auch: in manchen Fällen doch! Und um herauszufinden, welcher Fall ein »mancher« ist, könnte es für den
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