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Bin ich hier der Depp

Bin ich hier der Depp

Titel: Bin ich hier der Depp Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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solche Tipps unrealistisch sind und vom eigentlichen Problem ablenken, statt es zu lösen. Und weil es mir wichtig ist, Sie nicht unter falschen Verdacht zu stellen. Wer benötigt Tipps in Stressmanagement? Der, der sich zu viel Stress macht! Wer muss sein Zeitmanagement optimieren? Der, der zu viel Zeit verplempert! Dann liegt die Misere am Mitarbeiter, an seinem schlechten Selbstmanagement. Und sonst an nichts.
    Ich möchte Ihnen nicht zeigen, wie Sie das Falsche effektiver tun, sondern wie Sie es bleibenlassen. Ich möchte Ihnen zeigen, wie Sie Ihr Arbeitsleben so gestalten, dass es Ihnen dient statt nur Ihrer Firma. Und ich darf Ihnen versprechen: Was Sie zurücklassen, werden Sie nicht vermissen!
    Denn die typische Arbeit der Gegenwart ist eine pervertierte Form, eine Zwangsarbeit mit gesellschaftlichem Segen. Es liegt nicht an der Art, wie Sie arbeiten, wenn Sie frustriert, gestresst oder dicht am Burn-out sind – es liegt an den Umständen, unter denen Sie es tun.
    Die Arbeitgeber, verantwortlich für diese Umstände, behaupten das Gegenteil. Selbstoptimierungs-Seminare werden Ihnen als Akutmedizin verordnet, und Ihr Charakter soll renoviert werden. Die Firma sagt: »Legen Sie Ihren Perfektionismus ab!« Zugleich wird einen Kopf kürzer gemacht, wer nicht perfekte Arbeit abliefert. Die Firma sagt: »Schrauben Sie Ihren Ehrgeiz zurück!« Zugleich werden die Ehrgeizigen belohnt und zu neuem Ehrgeiz angestachelt.
    Nein, der Fehler liegt nicht beim Einzelnen – er liegt im System. Die moderne Arbeit hängt als Sonne überm Land, und alles Leben richtet sich an ihr aus. Jeder Arbeitnehmer ist ein kleiner Satellit, der um diese Sonne kreist, in fremdbestimmter Umlaufbahn. Wenn er seine Kreise mit Erfolg zieht, strahlt der Glanz auf ihn ab: Er erobert einen bedeutenden Posten, ein hohes Gehalt, vielleicht einen Chefsessel. Dann sagt die Gesellschaft: »Er hat es zu etwas gebracht.«
    Die Berufsleistung wird gleichgesetzt mit der Lebensleistung, und »Erfüllung« steht nur noch für »Pflichterfüllung«. Kein Toter findet mehr den Weg ins Grab, ohne dass ihm seine Berufsbezeichnung per Todesanzeige nachgerufen wird. Nein, hier ist nicht nur ein Mensch gestorben, was zu verschmerzen wäre, sondern ein »Abteilungsleiter Schrankwände«, was nicht zu verschmerzen ist. [130]
    Und was passiert, wenn ein Mitarbeiter-Satellit aus seiner Umlaufbahn stürzt, etwa in eine Arbeitslosigkeit? Dann verfinstert sich sein Leben. Nach internationalen Studien verzehnfacht eine Arbeitslosigkeit die Wahrscheinlichkeit einer Depression. 15 Prozent aller Arbeitslosen haben schon an Selbstmord gedacht. [131] Und der Verlust der Arbeit wiegt für die meisten Menschen schwerer als der Verlust ihres Ehepartners, berichtet der Glücksforscher Sir Richard Layard. [132]
    Die Arbeitssonne überblendet andere Werte unserer Gesellschaft. Die Schule macht junge Menschen »fit für den Beruf«. Politiker nehmen unser Land nur noch als »Wirtschaftsstandort« in den Mund, unsere Weisen sind »Wirtschaftsweise«, und wenn wir von Deutschlands bedeutendsten Werken sprechen, dann sind Autowerke in Wolfsburg und Untertürkheim gemeint, keine Bücher von Goethe und Schiller. Das Wohlbefinden der Nation soll sich am Bruttosozialprodukt ablesen lassen.
    Manchmal fürchte ich: Bald kommen keine Babys mehr zur Welt, sondern Nachwuchs-Fachkräfte, die man direkt aus den Kreißsälen auf Personalfließbändern in die Firmen transportiert, Nachschub für die Produktion. Jeden Monat rufen mich Eltern an, die Coachings für ihre Kinder buchen wollen: »Unsere Tochter wechselt jetzt von der Grundschule ins Gymnasium und weiß immer noch nicht, was sie beruflich machen will. Können Sie ihr weiterhelfen?« Die Rede ist nicht von Schulabgängern, bei denen eine Beratung sinnvoll sein kann, sondern von Schuleinsteigern. Das eigentliche Leben beenden und das Berufsleben beginnen, dafür scheint es niemals zu früh!
    Doch die Sonne der Arbeit, um die alles kreist, hat einen Fehler: Sie ist am Erlöschen! Die Wirtschaft tut alles, um ihre Kosten zu senken, und der größte Kostenfaktor heißt: Arbeit. Die Unternehmen sind äußerst flink, wenn sie Arbeitsplätze streichen, und äußerst zurückhaltend, wenn sie neue schaffen müssten.
    Dass so manche Firma zum Hamsterrad geworden ist, liegt nicht an der Globalisierung, nicht an der Verdichtung der Arbeit, nicht an den modernen Medien und erst recht nicht am einzelnen Arbeitnehmer – es liegt daran, dass mit der Gier

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