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Bin ich hier der Depp

Bin ich hier der Depp

Titel: Bin ich hier der Depp Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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womöglich sein Leben. So müssen Eltern, wenn die Nahrung knapp wird, in vielen Gegenden der Welt noch heute entscheiden: »Können wir ein Kind mit durchfüttern? Und wenn ja: welches?«
    Dass Kleinkinder um die Gunst ihrer Eltern buhlen, ist ein Überlebensprogramm, eine evolutionäre Prägung. Die Mutter braucht nur ein böses Gesicht zu machen, schon bricht ein Baby in Tränen aus. Es fürchtet, selbst Auslöser der Verstimmung zu sein (auch wenn’s vielleicht die gestiegene Stromrechnung war!). Es fürchtet, bald nicht mehr gewärmt, getrocknet, gefüttert zu werden. Es fürchtet um sein Leben.
    Gelingt es dem Kind dagegen, die Eltern zum Lächeln zu bringen, flüstert ihm sein Instinkt zu: »Sie sind mir gewogen, mein Leben ist sicher!« Also entwickelt es mit zunehmender Sozialisation ein feines Gespür dafür, wie es die Eltern für sich einnehmen kann.
    Kaum hat das Kind laufen gelernt, trommeln von allen Seiten Appelle auf es ein: »Das darfst du nicht anfassen!«, »Hab doch Geduld!«, »Nein, jetzt nicht!«, »Sei endlich still!«, »Hör auf zu quengeln!«, »Das gehört Papa, Finger weg!« Eine Studie in Großbritannien ergab, dass ein Kind pro Tag im Schnitt 449 Bemerkungen hört, davon nur 37 positive. Der Rest sind Verneinungen, Zurechtweisungen, sprachliche Schranken. [133]
    Und nach wie vor ist die emotionale Erpressung als Erziehungsmethode beliebt: »Wenn du ein liebes Mädchen sein willst, isst du jetzt deinen Teller leer.« »Wenn du nicht still sitzt, ist deine Mama von dir enttäuscht.« »Wenn du Papa magst, hörst du jetzt zu weinen auf.«
    Dieser Erziehungsstil führt zu Szenen wie dieser, die ich neulich beobachtet habe: Ein kleiner Junge, etwa drei Jahre alt, bleibt vor einem Schaufenster stehen und deutet auf ein Spielzeug. Die Eltern, sichtbar ungeduldig, fordern ihn auf, mit ihnen weiterzulaufen. Er weigert sich – worauf der Vater sagt: »Gut, dann gehen wir jetzt alleine.« Die Eltern laufen mit großen Schritten los. Das Kind starrt ihnen nach, völlig verwirrt. Dann weint es los und stolpert den Eltern hinterher.
    Und mit dem Schulalter beginnt der Ernst des Lebens erst recht, jetzt werden die Appelle mit gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft: »Mach uns keine Schande!«, »Sei nett zu den Nachbarn!«, »Geh in die Kirche!«, »Hör auf die Lehrer!«, »Bring gute Noten nach Hause!«
    Das Kind lernt, es allen recht zu machen, den Eltern, der Schule, den Lehrern, der Kirche, der Gesellschaft. Wer es als Kind den Eltern nicht recht macht, muss mit Liebesentzug rechnen. Wer es den Lehrern nicht recht macht, bekommt schlechte Noten. Wer es sich mit der Kirche verscherzt, dem droht die Hölle. Und wer die Wünsche der Gesellschaft ignoriert, endet als Außenseiter.
    Aber eines bleibt bei der Erziehung oft auf der Strecke: die Fähigkeit, den eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden. Vor lauter Stimmen, die von außen dröhnen, verstummt die innere Stimme. Der fremde Wille ist alles, der eigene Wille ist nichts. Diese Prägung erklärt, warum sich Mitarbeiter am Nasenring der Fremdbestimmung weit über ihre vertraglichen Pflichten hinausführen lassen.
    Die Konstellation in der Firma ist der Ursprungsfamilie ähnlich. Beide, Familie und Firma, sind schon da, wenn ein neues Mitglied hinzukommt. Beide hegen Erwartungen an den Neuen und ernähren ihn: die Familie mit Essen, die Firma mit Gehalt. Und wie der Vater mächtiger als das Kind ist, ist der Chef mächtiger als sein Angestellter. Wie die Mutter ihrer Tochter ins Gewissen redet, sie möge doch länger lernen, so fordert die Chefin ihre Mitarbeiterin auf, sie möge doch ein zusätzliches Projekt übernehmen.
    Die Gefahr ist groß, dass es – wie Psychologen das nennen – zu einer »Reinszenierung« der alten Familiensituation kommt: dass die erwachsene Frau, wenn ihr Chef sie zu Überstunden auffordert, unbewusst als kleines Mädchen reagiert. Weil sie die Hand, die sie nährt, nicht gegen sich aufbringen will.
    Tschüs, Glaubenssatz!
    Dass Claudia Nieber Überstunden machte, obwohl sie es nicht wollte, hatte mit den Botschaften aus ihrer Kindheit zu tun. Im Coaching fanden wir heraus, auf welche Glaubenssätze ihr innerer Kompass geeicht war: »Fall nicht negativ auf!«, »Wenn du dich anstrengst, dann schaffst du alles!«, »Mach’s den anderen recht!«, »Sei ein liebes Mädchen!«, »Tu das, was man dir sagt.«
    Weil sie als erwachsene Frau unbewusst immer noch nach solchen Sätzen handelte, machte sie es nur den anderen

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