Bin Ich Schon Erleuchtet
Diplome waren mir schon immer scheißegal. Viel lieber wäre mir, wenn ich mir sicher sein könnte, dass diese Erfahrung einen Sinn hatte.
30. April
Schweigetag
Ich habe geträumt, ein Mädchen, das ich kenne, will sich umbringen. Ich habe ihr das Gift gestohlen, damit sie es nicht schlucken kann, aber jemand muss sterben, deshalb habe ich das Gift selbst getrunken. Ohne zu überlegen, einfach runter damit, ex und hopp. Und ratzfatz bin ich reinkarniert. Ich befinde mich in einem anderen Haus und weiß noch nicht, dass ich einen anderen Körper habe. Bald darauf weiß ich im Traum, dass Jonah, meine Schwester und der Rest der Familie von meinem Tod erfahren haben. Ich kriege Panik und denke, ich könnte Jonah eigentlich eine Mail schicken, dass es mir gutgeht, aber ich kann nicht herausfinden, ob ich ein Geist bin oder ein neuer Mensch. Ich versuche anzurufen, zu schreiben, telepathische Botschaften zu schicken. Durch Telepathie erreiche ich meine Schwester, und sie ist erleichtert, dass ich lebe, aber das überwältigende Bedürfnis, Jonah zu erreichen, habe ich trotzdem noch.
Im Traum bin ich am Boden zerstört, weil ich einen so schrecklichen Fehler gemacht habe.
Plötzlich sitze ich mit der Schwester des Matrosen in einem Literaturseminar im College und sehe draußen meine Mutter stehen. Ich folge ihr ins Badezimmer unseres alten Hauses, des Hauses, in dem ich aufgewachsen bin. Sie beschneidet eine große Birkenfeige. Ich will ihr erzählen, dass ich ich bin, aber sie weint nur und sagt, bestimmt wird sie gleich verrückt. Dann fällt mir wieder ein, dass ich Selbstmord begangen habe. Ich sehe, wie ich mit zwei Plastikbehältern voller Gift ins Meer laufe und sie austrinke, während die Wellen mich umspülen.
Am wichtigsten ist mir, meine Familie zu finden und ihr zu sagen, dass ich es nicht wegen ihr getan habe. Ich will, dass alles wieder normal ist, wenn sie mich erst in meinem neuen Körper akzeptiert haben. Im Traum probe ich immer wieder, was ich dann zu Jonah und meiner Familie sagen würde: Alles bleibt, wie es war, ich habe mich nicht sehr verändert, auch wenn ich anders wirke. Jonah erzähle ich viele Dinge, die nur wir zwei wissen können, damit er mir glaubt, dass ich immer noch zu ihm gehöre.
Und die ganze Zeit über denke ich im Traum: Mein Gott. Was habe ich getan?
Vor ein paar Minuten bin ich aufgestanden und habe in dem Spiegel auf der Kommode meinen nackten Körper betrachtet. Ich bin anders. Ich bin dünner, oder irgendwie muskulöser, als hätte mich jemand unauffällig neu gestaltet. Und wenn mein Körper sich verändert hat, denke ich unwillkürlich, was ist dann mit meinem Geist, meinem Herzen? Wie sehen sie aus?
7.
To Keep My Love Alive
Nur ich werd’ sie niemals vergessen im Herzen, die, einmal zu sehen, ihr Leben gab hin.
Anna Achmatowa, Lots Weib
Ich wollte schon immer eine Erfahrung wie die, von denen spirituelle Lebenserinnerungen berichten. Alle spirituellen Autobiographien folgen demselben Muster: »Ich war verloren« wird zu »Ich bin erlöst«. Misserfolge führen zu Selbstzweifeln, Leiden und Rückschlägen, aber gegen Ende der Geschichte passiert etwas – eine Offenbarung, eine Katharsis, ein Nahtoderlebnis, eine Begegnung mit einem weisen Eingeborenen oder Obdachlosen. Unabhängig von den Details suggerieren spirituelle Lebenserinnerungen immer, dass am Ende der Reise unweigerlich ein Schmetterling aus dem Kokon schlüpft, und genau das wünschte ich mir. Ich wollte die Bekehrung des heiligen Augustinus im Garten, ich wollte Wunder und Wandlung. Aber so lief meine Geschichte nun mal nicht.
Ich verließ Bali mit der Erkenntnis, dass ich ganz sicher kein Schmetterling war. Ich fühlte mich weder transformiert noch erleuchtet. Ich war erschöpft und desillusioniert. Jetzt, acht Jahre später, kann ich erkennen, dass ich mich sehr wohl verändert hatte. Ein Mensch verändert sich schon allein dadurch, dass er zum Zweck der Transformation meditiert. Aber natürlich war ich kein Schmetterling, der nach Hause flattert – ich war einfach nur eine junge Frau, die ein paar Samen gesät hatte, die irgendwann, unabhängig von meinen Wünschen, aufgehen würden.
Sehr schnell merkte ich, dass es mir schwerer als früher fiel, mich mit meinen atheistischen Freunden über die religiösen Institutionen lustig zu machen. Ich konnte meine peinlichen Seiten besser akzeptieren, zum Beispiel, dass ich mich bis zum Ende meiner Tage nach einer Art Gott oder Glauben sehnen
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