Bin Ich Schon Erleuchtet
in meinem balinesischen Kleiderschrank versauert war. Es roch immer noch ein bisschen nach Mottenkugeln. Ausgemergelt vor lauter Trauer und arbeitslos las ich es im Keller meiner Tante in homöopathisch kleinen Dosen. Als enthielte es Botschaften von einem Mann, für den ich fast schon bereit war.
Das Buch bestand aus Erzählungen von den Irrfahrten einer Figur namens Maqroll el Gaviero, Maqroll der »Späher«. In der ersten Geschichte erfahren wir durch Maqrolls Tagebuch von seiner unseligen Schiffsreise durch einen namenlosen südamerikanischen Dschungel. Schon früh lenkt er sich von dem Wahnsinn auf dem Schiff ab, indem er Lebensgrundsätze formuliert: »Es sind alte Verhaltensweisen aus der Jesuitenschule, die nichts taugen und zu nichts führen, aber die die Wirkung eines wohltuenden Psalms haben, an dem ich mich festhalte, wenn der Boden unter mir nachgibt.«
Das gefiel mir. Ich las weiter.
»Vergessen wir nicht einen Großteil dessen, was uns widerfährt? Ist es nicht eher so, dass dieses Stück Vergangenheit als Samen, als unsichtbarer Ansporn dient, damit wir zu einem Ziel aufbrechen, das wir nachlässig aufgegeben haben?«
Ich legte das Buch hin und lauschte endlich einmal meinem Herzen. Und dann rief ich den Matrosen an, drei Jahre, nachdem er mir Maqroll geschenkt hatte, und erzählte ihm, dass ich das Buch las.
Nicht lange danach tauchte sein Name fortwährend in meinem Tagebuch auf – sein echter Name, Kurt, den ich vorher nie hingeschrieben hatte, weil er mir zu ernst oder vielleicht auch zu heilig war. Ich traf mich mit ihm auf einen Drink, während ich noch trauerte, und bald sprudelte alles, aber auch absolut alles aus mir heraus: mein Liebeskummer, die vielen verschlüsselten Tagebuchnotizen, die von ihm handelten, meine balinesischen Träume.
Eines Tages kamen wir auf das Thema Gott zu sprechen. Wir waren in Kurts Schlafzimmer, wo wir praktisch die Woche über gelebt hatten, hörten Bob Dylan und aßen Käse und Cracker im Bett. Kurt eröffnete mir, er sei Atheist. »War ich schon immer, werde ich immer sein. Schon mit vierzehn wusste ich, dass es keinen Gott gibt.«
So wäre ich auch gerne, antwortete ich. Ich würde gerne dieses eine Leben auskosten, ohne mein Glück aufs nächste zu verschieben. »Kurt«, sagte ich freudig erregt, »lass uns bitte nicht transzendieren.«
Er lachte. »Warum sollten wir?«
»Nein, ich meine es ernst. Nicht transzendieren. Lass uns auf dieser Ebene zusammenleben. Scheiß auf all dieses Transzendieren und Fragen und Sich-nach-Gott-Sehnen. Lass uns einfach nur das machen: Zusammensein. Bücher lesen. Vielleicht kann ich endlich richtig leben, wenn ich diese Vorstellung von Gott aufgebe.«
Wir saßen uns gegenüber, unsere Knie berührten sich. »Aber weißt du was«, gab er zu bedenken, »ich glaube, du wärst nicht mehr du selbst, wenn du das Suchen aufgeben würdest. Und außerdem dachte ich immer, Leben heißt, dass man nach etwas Echtem sucht.«
»Du bist ein Atheist, aber du findest nicht, dass Leute, die eine Art Gott oder eine spirituelle Praxis brauchen, komisch sind? Oder blöd?«
Er lachte. »Komisch, ja. Blöd, nein.«
»Und wenn wir Kinder hätten und ich plötzlich eine heilige Augustina würde und Christus fände. Wärst du bereit, unsere Kinder im katholischen Glauben zu erziehen? Also nicht, dass ich das vorhabe, aber wenn doch?«
»Natürlich«, erwiderte er. »Oder wir könnten es genau anders herum als deine Eltern machen: sie ohne Religion aufziehen, aber in katholische Schulen schicken. Wäre ein interessantes Experiment.«
»Nett«, sagte ich. »Sie der katholischen Kirche ausliefern und denen ihre religiöse Erziehung überlassen.« Ich überlegte. »Oder ich könnte ihnen einfach Yoga beibringen.«
»Ich werde aber keinen Haufen Pissetrinker aufziehen«, widersprach Kurt. »Meine Kinder trinken kein Pipi.«
»Deine Frau auch nicht«, sagte ich. »Einmal hat mir gereicht.«
Seine Augen leuchteten auf, und ich registrierte, was ich da gerade gesagt hatte. »Oh, Shit.«
Seine Wangen röteten sich, und er zog mich an sich. Ich nahm sein Gesicht zwischen die Hände. »Ich wusste nicht, dass so etwas wie du möglich ist.«
An jenem Abend verließ ich sein Haus in einer sehr merkwürdigen Verfassung. Ich war überzeugt, dass ich gerade dem Mann eine gute Nacht, gewünscht hatte, mit dem ich mein Leben verbringen wollte, und trotzdem warf ich nervöse Blicke über die Schulter wie eine Ehebrecherin. Zu Hause schrieb ich einen
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