Bin Ich Schon Erleuchtet
Abschiedsdrinks und Abschiedsessen. Und ich bin nicht dabei. Ich fühle mich kaum mit ihm verbunden und denke nur an das Negative. Ich denke nicht daran, wie lieb er ist, dass er für mich kocht oder mir Weingummi mitbringt, weil er es witzig findet, wenn ich dann einen Zuckerflash kriege. Nein, ich denke daran, dass wir zu viel vor der Glotze sitzen, dass ich mir wünschte, wir würden zusammen verreisen, dass ich nicht weiß, wie es sein wird, mit ihm zusammenzuleben.
Meine Schwester lebt jetzt allein in unserer Wohnung. Wir werden vielleicht nie wieder in derselben Stadt leben. Wir waren jede Nacht zusammen. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen und vergeude trotzdem zwei kostbare Monate hier unter Fremden.
Ich muss immer wieder an meinen letzten Abend in Seattle denken. Ich fuhr durch die Innenstadt, in der die Straßenlampen mit glückverheißenden amerikanischen Fähnchen geschmückt waren. Ich war auf dem Heimweg von meinen Großeltern; ich hatte mit Opa Der Doktor und das liebe Vieh angeschaut und war dann nach unten gegangen, um mich von Oma zu verabschieden.
Es war vier Uhr nachmittags, und sie lag im Bett. Ich setzte mich am Bettrand auf die himbeerrote Tagesdecke und erklärte, dass ich ihr auf Wiedersehen sagen wollte. In diesem Augenblick kam die neue Pflegerin herein, die künftig die Tage übernahm, an denen ich mich um Oma gekümmert hatte, und Oma sagte: »Mary, ich möchte Ihnen meine Enkelin Suzie vorstellen. Sie lebt in New York mit ihrem Freund Jonah.«
Ich widersprach: »Nein, Oma, ich fahre erst noch für zwei Monate nach Bali. Ich bin noch nicht umgezogen.«
Sie neigte den Kopf auf ihre typische, kokette Art und ließ Mary ihre Grübchen sehen. »Suzie hat den weiten Weg aus New York auf sich genommen, um mich zu besuchen.« Sie tätschelte meine Hand.
Ich lächelte Mary zu, als sie hinausging – wir waren uns schon mindestens ein halbes Dutzend Mal begegnet – und hörte mir an, wie Oma im Plauderton von einem Traum erzählte, den sie offensichtlich für real hielt. Ich versuchte nicht daran zu denken, in welchem Zustand ich sie in zwei Monaten vorfinden würde. Sie veränderte sich von Woche zu Woche in dramatischem Tempo. Ich wurde kribbelig und wehrte mich gegen die Schuldgefühle, die sich mir in den Magen und die Kehle bohrten. Ihr Zimmer roch wie immer stark nach Rosen-Potpourri und schwach nach Urin, und obwohl ich im Lauf der Jahre viele Stunden hier verbracht hatte und daran gewöhnt war, wollte ich auf einmal nur noch weg.
Ich gab Oma einen Abschiedskuss und legte meinen Kopf auf ihre Brust, während sie irgendetwas von ihrem Hund Blitz schwatzte, der vorher im Zimmer gewesen sei. Mein Vater und seine Kommilitonen hätten den Dackel am Abend vorher mit deutschem Bier betrunken gemacht, und seine kleinen Beinchen seien immer weggerutscht. Ich murmelte etwas, als Zeichen, dass ich zuhörte, und allmählich ließ der Redeschwall nach. Ich setzte mich auf und betrachtete sie. Sie döste mit leicht geöffnetem Mund, und man sah ihre kleinen gelblichen Zähne. Ich strich mit dem Finger über die Stelle zwischen ihren Augenbrauen, wie es mein Vater immer machte, wenn Oma unruhig war, und ließ mich dann vom Bett gleiten. Ein paar Minuten räumte ich noch ihr Zimmer auf, legte ihren Morgenmantel in den Wäschekorb und rückte den Stapel Notizbücher auf ihrem Nachttisch gerade. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass es vielleicht das letzte Mal war. Und dass ich das Zusammensein mit meiner Großmutter gegen ein indonesisches Abenteuer eintauschte. Als ich gerade hinausging, hörte ich die Laken rascheln und dann ihre Stimme, kindlich und voller Freude, die in den leeren Raum rief: »Ich habe ein solches Glück.«
Es war, als hätte mir jemand mit dem Baseballschläger einen Schlag in die Magengrube versetzt.
Wo ist der positive Gedanke als Gegengewicht? Wie kann man den Verfall einer Frau mit ansehen und Zufriedenheit üben? Außer man ist ein Soziopath?
Seit ich auf Bali bin, habe ich keine Zeitung mehr gelesen. Angeblich ist das förderlich für die Erleuchtung und ein Leben ohne Furcht: Man zieht sich von der Welt zurück, man hält sich von Menschen und Dingen fern, an denen man hängt.
Aber ich weiß genau: Wenn die Welt morgen zu Ende wäre, wäre ich lieber nicht hier. Ich wäre nicht gerne erleuchtet. Ich wäre lieber in Seattle, bei meiner Familie und meinen Freunden und würde mit ihnen auf die Apokalypse anstoßen.
7. März
Das Letzte, was ich von
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