Bin Ich Schon Erleuchtet
wer weiß, vielleicht würde mich das zu dem Gott führen, den ich erahnte, und mein Gehirn hätte nicht mehr das Bedürfnis, alles zu widerlegen.
Sie konnte helfen, mich auf meine Zukunft mit Jonah vorzubereiten.
All das schoss mir blitzschnell durch den Kopf, während mich Indras warme braune Augen so innig und erwartungsvoll anschauten wie damals, als ich ihren Rat zum ersten Mal gesucht hatte. Und dann zitierte ich, so freundlich ich nur konnte, Whitney Houston: Hell to the no. Nie im Leben.
Indra war enttäuscht. Das merkte ich ihr an.
Enttäuscht und überrascht. Sie nickte. »Das ist natürlich deine Entscheidung, aber …« Ich machte mir nichts aus ihrer Enttäuschung. Komisch. Ich genoss sie fast.
Es hatte natürlich so kommen müssen. Wir waren seit Wochen auf einem Retreat. Wenn man acht Stunden täglich Yoga macht, sind die Tage wie Wochen und die Wochen wie Monate. Das heißt, ich war eigentlich seit ungefähr fünfzehn Jahren auf dem Retreat. Ich war ein Teenager im Lande Retreat. Eine Rebellion war fällig. Irgendwo auf dem verschlungenen Pfad durch die Wochen waren meine Idole Indra und Lou zu Ersatzeltern geworden, die darauf bestanden, dass ich alles so sah, wie sie es sahen, dass ich aß, was sie aßen, die Körperflüssigkeiten trank, die sie tranken, und in die Kirche – beziehungsweise den Wantilan – ging, wann immer sie das wünschten.
Es sind immer die Mütter, die am meisten von ihren heranwachsenden Töchtern einstecken müssen. Lou war in meinen Augen über jede Kritik erhaben, aber wenn ich Indra betrachtete, sah ich eine Frau, die mich zu ihrem Ebenbild formen wollte. Und zum ersten Mal seit Monaten wollte ich wieder ich selbst sein. Ich sehnte mich nach einer guten Tasse Kaffee und einem Regentag. Ich wollte einen Pullover tragen und Leute um mich haben, die fluchen.
Alle Teenager kritisieren die Art und Weise, wie sie erzogen wurden, und sind der Ansicht, ihre Eltern hätten es anders machen sollen. Folglich suchte ich nach Löchern in Indras Integrität. Wegen ihrer Feilscherei im Wantilan und dem Gespräch mit Jessica über die Kosten für den Anatomiekurs fragte ich mich, ob Indra uns wirklich als Schüler betrachtete oder nicht doch eher als Kunden. Ich verstand nicht, warum das Thema Geld bei einem spirituellen Retreat überhaupt eine Rolle spielen sollte. Wollte sie uns manipulieren, damit wir mehr rausrückten? Versuchte sie, Jessica zu kontrollieren, oder trat sie nur für SuZens Interessen ein? Oder beides?
Ich überdachte meine eigenen finanziellen Sünden – ich hatte Lous Studio betrogen, weil ich Yoga machen wollte und das mehr kostete, als ich glaubte, mir leisten zu können. Das war natürlich falsch, aber vielleicht hatte Karlee recht, vielleicht korrumpierte Geld jede spirituelle Praxis. Vielleicht sollten Yoga-Studios wie Kirchen funktionieren, in denen alle den Zehnten bezahlen, damit der Laden läuft, aber mehr nicht. Oder wie Fitnessstudios, wo man keinen Gott und keine Philosophie für eine ganzheitliche Crosstrainer-Erfahrung braucht und niemand sich um dein Ego schert.
Ein paar Monate nach meiner Rückkehr aus Bali flog meine Schwester mit mir nach New York, um mir beim Umzug zu helfen. Als sie wieder zurückflog, hatte ich einen Job in Aussicht, ein Yoga-Studio und einen Futon, der groß genug war für Jonah und mich.
Jonah und ich fanden Freunde, die bald zu unserer Stadtfamilie wurden. Diese Freunde lernten sämtliche Besucher kennen, jede Cousine, jede Tante und all meine Geschwister, und mehreren fiel auf, dass mich niemand aus meiner Familie Suzanne nannte. Und so übernahmen sie deren familiäres »Suzie«. Eigentlich nannten mich nur die Freunde aus Grundschulzeiten so. Aus dem Mund meiner neuen Freunde klang der Name ungewohnt, aber schön. Auf Bali jagte mir mein Name einen heillosen Schrecken ein. In New York gab er mir das Gefühl, geliebt zu werden.
In meinem ersten Jahr in New York plagte mich entsetzliches Heimweh. Meine Familie fehlte mir wie ein amputiertes Bein. Ich sehnte mich nach dem Grün und dem Grau von Seattle, nach den Seen und Bergen. Ich erinnere mich an einen Tag Anfang August, an dem ich mich durch die schwüle Sommerhitze schleppte, um an der Penn Station eine Freundin abzuholen. Einen Moment lang fiel mein Blick zwischen den Häusern hindurch auf den schimmernden Hudson. Beim Anblick des silbernen Wassers weiteten sich meine Lungen, und es kam mir vor, als hätte ich seit Monaten nicht mehr richtig
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