Bin Ich Schon Erleuchtet
Zucker-Alkohol-Schlacht auf unserem Tisch. »Ich glaube, Wein ist der Geheimtipp für ein Leben im gegenwärtigen Augenblick.«
»Unsere Trunkenheit ist eine tiefsinnige.«
»Ja! Sie gibt allem eine gewisse … momenthafte … Qualität. Verstehst du?«
»Moment … heit.«
»Wir sind jetzt hier.«
»Absolut. Ich bin total hier. Jetzt.«
Das Restaurant machte schon dicht, als wir die Gläser zum letzten Mal erhoben. Ich hatte einen Kloß im Hals und den unbändigen Wunsch, diesen Abend, diesen Drink, dieses Gespräch, dieses Licht, diese entspannten Stunden im Restaurant bis in alle Ewigkeit auszudehnen. Mussten wir nach Hause?
»Scheiß auf den höheren Vogel!«, erklärte Jessica entschieden.
»Amen, Schwester«, antwortete ich.
Wir bezahlten und traten in die Nacht hinaus. Eine Wendung nach links hätte den Heimweg abgekürzt. Wir gingen nach rechts in Richtung Monkey Forest Road. Nach wenigen Metern klebten unsere Nasen am Schaufenster der Prada-Boutique.
»Da ist sie«, sagte ich. »Noch da. Wartet.«
»Sie ist hübsch«, gab Jessica zu.
»Findest du, sie sieht einsam aus?«
»Ein bisschen.«
»Nicht einsam sein«, hauchten wir durch die Glasscheibe.
»Ich komme bald und hole dich, meine Kleine«, flüsterte ich. »Wenn du die bist, als die du dich ausgibst.«
Jessica kicherte mit halb geschlossenen Augen und langte nach meiner Hand. Sie verfehlte sie und versuchte es noch einmal. Ihre Finger fuchtelten in der Luft herum, als wollte sie ein Blatt Papier fangen. Als sie die Hand erwischt hatte, tätschelte sie sie unbeholfen, und wir liefen los.
Morgen würden wir uns wieder unserer Ausbildung zur Yoga-Lehrerin widmen, nahmen wir uns vor, aber heute Nacht musste der höhere Vogel vom niederen Vogel beschissen werden. Dem höheren Vogel macht es nichts aus, vom niederen Vogel gnadenlos beschissen zu werden, da waren wir uns einig. Der höhere Vogel ist nämlich, na eben höher. Im Geäst.
Der Heimweg ernüchterte uns ein wenig, und wir saßen noch eine Weile auf der Veranda und tranken literweise Wasser. Irgendwann lagen wir schließlich mit dem Gesicht zueinander im Dunkeln im Bett, die Füße vom Mondlicht übergossen. Wir redeten, und ich empfand etwas, das ich selten empfinde: Glück. Während ich mit meiner Mitbewohnerin nach einer kathartischen, schokolade- und weinseligen Nacht noch ein paar Minuten redete, war ich glücklich. Mein Leben war denkbar.
»Du gehst nach New York«, sagte Jessica, »und ich komm dich besuchen. Wir gehn in die hippen Yoga-Studios und kaufen schöne Kleider und trinken Wein!«
»Vielleicht …«, erwiderte ich. »Und vielleicht wird das Zusammenleben mich und Jonah glücklich machen. Und stärker. Glaubst du das?«
»Könnte doch sein, wer weiß? Sieh’s einfach als Abenteuer. Du hast keine Ahnung, wie’s ausgehen wird. Was sagt dir dein Bauch?«
»Dass ich Jonah liebe. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Und unsere Hochzeit würde so viele Menschen glücklich machen. Er gehört schon zu meiner Familie.« Ich sah Jessicas Silhouette im Dunkeln und spürte, dass ich ihr ähnlicher sein konnte, wenn ich losließ. Sie ist offen, sie ist furchtlos. Sie hat anscheinend keine Angst, dass sie kostbare Zeit oder den Kontakt zu geliebten Menschen verliert. Ich fragte sie, ob ihr der Gedanke an die Zukunft jemals Angst eingejagt hat.
»Ich hab ständig Angst«, antwortete sie. »Aber ich glaub nicht, dass Gott mich nur hergebracht hat, damit ich sterbe. Gott hat mich hergebracht, damit ich mich finde und die Liebe finde.« Sie rollte sich auf den Rücken und seufzte. »Ich kann’s kaum erwarten, die Liebe zu finden. Du hast so ein Glück, dass du sie hast.«
Jessica schläft seit Stunden. Ich sollte das auch. Aber in mir laufen die letzten vierundzwanzig Stunden wie ein Film ab, und dann muss ich an die letzten Wochen, die letzten Monate, die letzten Jahre denken … Jessica hat recht. Ich habe Glück.
Jonah versteht sich blendend mit meinen Geschwistern. Er liebt meine Großeltern. Opa fragt mich täglich, wann ich Jonah denn nun heirate. In New York wird Jonah meine Familie sein. Ich sollte aufhören, mir Sorgen zu machen und Antworten von einer Frau zu erwarten, die mich außerhalb der Yoga-Welt nie erlebt hat. Sie hat mich noch nicht mal in Jeans gesehen – wie sollte sie mich gut genug kennen, um mir einen Rat zu geben? Ich sollte mich wie Jessica voll und ganz dem öffnen, was die Zukunft bringt.
Und ich sollte schlafen.
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