Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
Gangschaltung unterwegs ist. Auf Berlins Open-Air-Laufsteg, der Kastanienallee – liebevoll auch Casting-Allee genannt –, gibt es außerdem jede Menge optischer Ablenkung auf zwei Beinen, doch jetzt ist schon der kleinste Moment der Unaufmerksamkeit brandgefährlich: Der vielleicht mächtigste Gegner aller individual Verkehrenden – vor allem aber der Radler! – rollt auf Schienen daher: die Tram. Weil sie mitten auf der Straße hält, wo ihre Passagiere achtlos aus den Türen strömen, verliere ich an der Eberswalder Straße – der wahrscheinlich chaotischsten Kreuzung Berlins – weitere kostbare Sekunden. Die waghalsigsten Verkehrsteilnehmer sind jedoch wieder mal meine Kollegen auf zwei Rädern, die sich in vollkommener Missachtung jeglicher Vorschriften zwischen allen anderen hindurchschlängeln.
Auf dem letzten Teilabschnitt der Etappe heize ich meinem zwei Beine starken Motor noch einmal ein, doch dann kündigt sich innerhalb weniger Augenblicke das absolute Worst-Case-Szenario an: Kurz hinter einer Kreuzung winkt ein Kind einem Mann, der links des Radwegs aus dem Auto steigt. Plötzlich reißt sich der kleine Junge von der Hand der Mutter los und rennt schnurstracks auf die Straße – und vor mein Bike.
Mein Film fährt auf Zeitlupe herunter.
»Jöööööörn-Laaaaaasseeeeee!«, ruft die Frau, erreicht ihren Sohn aber nicht mehr.
Mit voller Kraft presse ich beide Bremshebel an den Lenker und reiße ihn zur Seite, schaue dem blonden Kerlchen aus wenigen Zentimetern Entfernung in seine weit aufgerissenen Augen. Mein Hinterrad hebt vom Boden ab. Ich schaffe es, irgendwie über den Lenker abzusteigen, dann reißt mein Film.
Stille.
Dunkelheit.
Kein Schmerz.
Nur meine Atemzüge.
In der Ferne weint ein Kind.
Mein Herz pocht, mein Schädel auch. Ein Mann hilft mir hoch, stützt mich, spricht mit mir. Dabei kehrt mein Schmerzbewusstsein zurück, schickt qualvolle Grüße von der linken Körperhälfte an meine neuronalen Schmerzzentren: Knöchel, Knie, Becken, Ellenbogen, Schulter und Schädel. Alles tut weh.
»Geiler Stunt«, sagt der Mann, den ich blinzelnd anschaue. »Aber Vorsicht: Da kommt dit Muttatier!«
»Was? Wer?«
Verschwommen nehme ich eine blonde Frau wahr, die aus der Ferne kreischend auf mich zustampft. »Ihr verfickten Radfahrer!«, brüllt sie aus voller Kehle. »Ihr scheißverfickten Radfahrer!«
Ich versuche, sie zu ignorieren, und humpele an ihr vorbei zum verschonten Unfallopfer, das von seinem Vater beruhigt wird.
»Alles okay bei dir?«, frage ich den Jungen.
Er nickt, heult und hält sich das aufgeschürfte Knie. Ich weiß überhaupt nicht, wie er sich das Knie aufschlagen konnte – schließlich hab ich ihn noch nicht mal berührt! Hinter mir keift die Frau noch immer, wird nun aber von meinem Helfer in die Schranken verwiesen.
»Passen Sie lieber uff«, sagt er trocken, »dass Ihr Kind keene Radfahrer mehr umnietet!«
Das bringt die Dame so richtig in Rage. Erst als sich der Junge an sie wendet, beruhigt sie sich etwas und nimmt ihn in den Arm.
»Du, Mama?«
»Ja, Jörn-Lasse?« Sie geht in die Hocke und nimmt das verheulte kleine Gesicht in beide Hände.
»Ich brauch jetzt erstmal ’n Latte Mackjato!«, wimmert der Junge und vergräbt sich schluchzend in ihrem Schal. »Aber ohne Koffein …«
»Natürlich, Jörn-Lasse!« Während sie den Kopf ihres weinenden Sohnes streichelt, schaut sie mich finster an, dann lässt die Kleinfamilie mich und den Zeugen fassungslos stehen.
Ein Blick auf die Uhr: halb vier! Ich bedanke mich bei meinem Helfer, der sich kopfschüttelnd verabschiedet und mir gute Besserung wünscht. Noch immer leicht benommen – vor allem aber schwer gestresst – steige ich wieder auf mein Rad und will Gas geben – merke dann aber, dass die Kette vorne und hinten rausgesprungen ist. Jegliche Einfädelversuche scheitern an meinen zitternden Händen. Das Hotel ist aber schon in Sichtweite, also schließe ich mein Fahrrad an und humple um 15:32 Uhr in die Lobby.
»Brauchen Sie einen Arzt?«, fragt mich die junge Dame am Empfang mit großen Augen, doch ich schüttele nur den Kopf.
»Ich hab … einen Termin … mit …« Dann versagt mir die Stimme.
»Scharlotte Rosch?«
So hab ich den Namen meiner Interviewpartnerin auch noch nicht gehört, aber für Besserwisserei ist keine Zeit. Außerdem macht man sich damit erfahrungsgemäß nicht sonderlich beliebt, daher nicke ich einfach.
»Dritter Stock. Konferenzraum.«
Bevor ich den Lift rufe,
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