Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
Busspur nimmt er mit seiner Rennmaschine dann schnell Fahrt auf. Also: hinterher! Unter Höchstleistung folge ich ihm, überhole dabei mehrere gelbe Doppeldeckerbusse und vier leere Pferdekutschen. Kurz vor der Friedrichstraße hebt er seinen Hintern in die Höhe und sprintet so auf die rote Ampel zu.
Was hat er bloß vor? Um den Fahrstil der Mitglieder seiner Zunft ranken sich ja die wildesten Gerüchte, aber seine folgende Aktion möchte ich schon jetzt als legendär bezeichnen: Exakt mit dem Umschalten der Ampel auf Rotgelb flitzt er in Höchstgeschwindigkeit rechts neben den Autos über die Haltelinie, reißt seinen Minilenker nach links und saust – schneller als die Autos der Querstraße starten können – in letzter Sekunde einmal quer über die gesamte Kreuzung.
Um 15:11 Uhr biege ich unter den kahlen Linden rechts in die Charlottenstraße, schließe am Gendarmenmarkt mein Rad an und rufe im Bürogebäude den Aufzug zur Redaktion. In der Kabine schlägt mein Herz bis zum Hals, und als sich die Türen öffnen, steht ein Mitarbeiter mit dem Aufzeichnungsgerät in der Hand vor mir.
»Du lässt dir ja Zeit«, sagt er, lächelt aber und gibt mir mit dem Fuß in der Lifttür einen Crashkurs in Sachen semiprofessionelle Audioaufnahme. Wird schon nicht so schwer sein, denke ich mir – bin ja nicht blöde, und ich habe auch gar keine Zeit, um mich dumm anzustellen!
»Vierzehn Minuten hast du noch«, sagt der Mann endlich und schickt mich per Knopfdruck zurück ins Erdgeschoss.
Als ich wieder aufs Mountainbike steige und meine Lampen auf Blinkmodus schalte, ist dem Himmel der baldige Sonnenuntergang immer deutlicher anzusehen. Der Nieselregen hat zwar aufgehört, aber auf den Straßen hat sich ein gefährlicher Film aus feuchtem Schmutz gebildet.
Nach wenigen Metern des wilden Gestrampels begegne ich einem Mitglied meiner Zweiradcommunity, das deutlich besser als ich auf die Witterung vorbereitet ist: einem professionellen Allwetterradler. Von oben bis unten ist der Mann in regenfeste Kleidung gehüllt, sein Rad verfügt über Schutzbleche und eine fest installierte Beleuchtung, und natürlich trägt er einen Fahrradhelm. Wegen der drohenden Gefahr, an HFS zu erkranken, dem Helmfrisursyndrom, konnte ich mich zu diesem Schritt bisher nicht durchringen. Als ich neben ihm halte, dreht sich der Mann zu mir um.
»Philipp?«
Woher kennt der Typ meinen Namen? Irritiert schaue ich ihm ins Gesicht, erkenne aber in dem kleinen Ausschnitt, der zwischen Helm und Kragen zu sehen ist, keine vertrauten Züge.
»Ich bin’s. Alex, dein Ex-Vize-Boss!«
Tatsächlich, Alex Springer, der junge Konrektor, mit dem ich ein ganzes Jahr lang in der erweiterten Schulleitung gesessen habe.
»Wollen wir ’nen Kaffee trinken gehen?«, fragt er und grinst.
Mit einem Blick auf die Uhr erkläre ich ihm, in zwölf Minuten verabredet zu sein, und schlage vor, in unserer gemeinsamen Schöneberger Heimat mal wieder einen zu heben.
»Da hab ich ’ne bessere Idee«, fällt ihm ein, »in zwei Wochen ist Weihnachtsfeier vom Kollegium. Haste Lust?«
»Bin ich denn da überhaupt willkommen?«
Mit aufeinandergepressten Lippen schielt er nach oben und schüttelt den Kopf hin und her. »Vielleicht nicht bei allen«, sagt er schließlich, »aber bei der Schulleitung auf jeden Fall!«
»Gut, schickst du mir ’ne Mail? Ich muss echt weiter, sorry!«
»Fahr vorsichtig!«, ruft er mir noch hinterher, den Rest verstehe ich schon nicht mehr.
Kaum habe ich die Spree nach Norden überquert, nimmt die Zahl der Hornbrillen, Röhrenjeans und Wollmützen schlagartig zu – Hipster-Alarmstufe Rot! Dazu steigen Menschen mit Fellkragen an Daunenmänteln aus sündhaft teuren Autos und stolzieren in kleine Restaurants, an deren Schaufenstern ich in meiner uncoolen Jacke vorbeibrause. Kein Haus ist hier unsaniert, kein Parkplatz frei, alle Bettler wurden erfolgreich durch Bankautomaten ersetzt. Der Fall ist klar: Ich bin in der hippen Mitte angekommen. Am Rosenthaler Platz sehe ich das St. Oberholz an mir vorbeisausen, das für seine zweite Etage berühmt ist: Rund um die Uhr sitzen hier Individualisten mit identischen Laptops und pflegen ihre sozialen Kontakte. Online, versteht sich. Einige von ihnen geben diesen Ort sogar auf ihren Visitenkarten als Büroadresse an – so will es zumindest die Legende.
Nach der Steigung am Weinbergsweg erreiche ich die Kastanienallee und bin nun endgültig der Einzige, der nicht auf einem schicken Vintage-Rennrad ohne
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