Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
lang wird wohl die Inkubationszeit sein? Oder lässt sich die Metamorphose zum Foodfreak noch verhindern?
Zu Hause treffe ich Sarah, die es sich mit einem Glas Wein auf dem Sofa gemütlich gemacht hat. Ich setze mich mit einem letzten Glas für heute dazu und nehme all meinen Mut zusammen. »Sarah, ich muss dir etwas sagen!«
»Lass mich raten!« Mit eingefrorener Miene sieht sie mir in die Augen. »Du bist schwul?«
»Was? Nein!« Empört stelle ich mein Weinglas beiseite und bemerke dabei den abgespreizten kleinen Finger. »Also … nicht, dass ich damit ein Problem hätte.«
Sarah atmet durch, lehnt sich aber wieder interessiert nach vorne, als ich ihr eröffne, ab heute deutlich weniger Fleisch essen zu wollen.
»Ach, wie kommt das denn auf einmal?«, will sie wissen und grinst mich dann breit an. »Hat dir etwa jemand verraten, dass es aus toten Tieren gemacht wird?«
Haha, sehr witzig! Ich weiß natürlich genau, worauf Sarah anspielt. Bisher war sie nämlich immer diejenige, die um mehr vegetarische Kost gebeten hat, woraufhin ich meist leicht enttäuscht zugestimmt, mir aber am Nachmittag manchmal noch heimlich einen Cheeseburger geholt habe. Oder zwei. Und in der Tat hatte ich bis vorhin ein ziemlich abstraktes Verhältnis zu Fleisch: Natürlich war mir stets klar, dass für meine geliebte Bolognese mindestens zwei verschiedene Lebewesen durch den Fleischwolf gedreht werden mussten – na und? Bis vor drei Jahren bin ich auch ganz entspannt zum Discounter gelatscht, habe mir dort Minutensteaks in einer rosa Plastikpackung besorgt und mich kein bisschen darüber gewundert, dass die Dinger nach dem Braten nur noch halb so groß waren und wie eine Schuhsohle schmeckten. Erst im Laufe meiner Beziehung mit Sarah habe ich angefangen, die Begriffe Lebensmittel und Qualität in einem Satz zu verwenden, denn im Gegensatz zu mir ist Sarah bei echten Ökofreaks aufgewachsen. Ihre Eltern haben schon im Bioladen eingekauft, als die noch Reformhäuser hießen. Wenn wir Sarahs Heimat im Badischen Land besuchen, merke ich meist schon nach einem halben Tag, dass mein Verdauungstrakt etwas anders läuft. Das hat mit den Ballaststoffen zu tun, erklärte mir Moni, Sarahs Mutter, bei meinem ersten Besuch der Familie Lichtenstein.
»Aber tu mir bitte einen Gefallen, Philipp«, sagt Sarah, als ich ihr von Frau Herrmanns Argumenten erzählt habe. »Werd jetzt nicht zu so einem Kampfvegetarier, der ständig …«
»Veganer«, unterbreche ich sie.
»Was?!« Mit großen Augen schaut sie mich an. »Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?«
»Ist ja gut«, beruhige ich sie. »Ich mach doch nur Spaß …«
Aber sowohl Sarah als auch ich wissen, dass ich in derlei Angelegenheiten selten zu Scherzen aufgelegt bin.
11
LEISE KRISELT DER SCHNEE
N ächstes Jahr kaufe ich die Geschenke AUF JEDEN FALL früher. Oder ich bestelle sie im Internet. Diesen Stress tu ich mir nie wieder an!
Das habe ich mir jedenfalls vor einem Jahr ganz fest vorgenommen. Und vor zwei Jahren. Um ganz ehrlich zu sein, nehme ich es mir jedes Jahr aufs Neue vor, und dann renne ich jeden Dezember wieder mit Anlauf ins offene Messer des Weihnachtswahnsinns. Mit diesem fragwürdigen Zeitmanagement stehe ich natürlich nicht alleine da, und so gleicht der Ku’damm zwei Tage vorm Feste dem reinsten Shopping-Schlachtfeld. Unüberschaubare Menschenmassen schieben sich über die verschneiten Gehwege, streiten sich um letzte Geschenkpapierrollen, schleppen schwitzend riesige Tüten aus den Geschäften oder liefern sich im Kampf um Parkplätze laute Hupduelle.
Während sich Sarah mit Klara im Kinderwagen durchs KaDeWe schlägt, renne ich genervt durch ein riesiges Bücherkaufhaus, schnappe mir zwei Bestsellerromane, einen Wandkalender und ein Kochbuch und rege mich dann am laufenden Band auf: zuerst über die Linkssteher auf der Rolltreppe, dann über die Passendzahler an der Kasse – bis ich mich schließlich durch die Menge nach draußen geboxt habe.
Jesus, Maria und Josef – bin ich gestresst! Und wenn man den Geschichten glaubt, dann sind genau diese drei Figuren dafür verantwortlich – weil angeblich vor gut zweitausend Jahren ein Mischwesen aus Mensch und Supergott von einer Jungfrau geboren wurde. Na klar: Wer’s glaubt, wird selig! Und wer’s nicht glaubt, der brutzelt ganz einfach im ewigen Höllenfeuer – selbst schuld! Diese Heilslehre, die der weltweit erfolgreichste Anbieter für spirituelle Dienstleistungen bietet, kommt mir bei jeder
Weitere Kostenlose Bücher