Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
Messe, doch mit der Trennung wurde auch das Weihnachtsfest zweigeteilt: Den Heiligen Vormittag verbringen wir seitdem bei Herrn Papa, den Heiligen Abend bei Frau Mama, und solange mein Onkel Günther nicht auftaucht, läuft die Geschichte meist auch ziemlich harmonisch ab. Die restlichen zwei Feiertage werden dann etwas flexibler angegangen, immerhin steht der 24. Dezember in der Hierarchie der Feiertage ganz oben.
Am Vormittag des Vierunzwanzigsten biegen wir nach einer längeren Autofahrt in die verkehrsberuhigte Zone des Einfamilienhausbezirks ein, in dem mein Vater mit seiner Freundin und ihrem gemeinsamen Kind wohnt. Hier tobt der jährliche Kampf um die krasseste Weihnachtsdekoration. Nicht alle in der Nachbarschaft scheinen sich daran zu beteiligen, aber die, die es tun, tun es aus vollem Herzen – typisch Freaks eben.
Alle teilnehmenden Häuser verfügen über eine Art Grundausstattung: Lichterschläuche, die an den Kanten des Hauses und am Dachgiebel entlanggelegt sind, dazu wild blitzenden Fensterschmuck sowie diverse Sterne, Kränze, Glocken und Engel. Einige haben die Hauswände und Dachflächen mit LED -Netzen ausgelegt, andere sind in stilistisch neue Gewässer vorgedrungen und arbeiten mit bunten Strahlern, die den leichten Schneefall illuminieren. Die Kür im außenarchitektonischen Weihnachtsschmuck bilden aber ganz klar die Figuren, die vor oder auf dem Haus aufgestellt werden: mannshohe Nussknacker als Wachen am Zaun, Engelsgruppen auf der Dachrinne, Beine von Weihnachtsmännern, die kopfüber aus dem Schornstein lugen, und natürlich Schlitten mit den Tieren, von denen ich früher immer dachte, sie würden Renn tiere heißen – was ja eigentlich auch besser passt.
»Guck dir an, wie die Leute ausflippen«, sage ich begeistert zu Sarah, als wir vor dem Haus meines Vaters aus dem Auto steigen. Für einen Moment habe ich nicht nur die gemäßigte Laune vergessen, sondern auch Sarahs begrenzte Begeisterung für übertriebene Absurditäten. Ich hingegen liebe die absonderlichen Hobbys meiner Mitmenschen und kann mich ganz köstlich darüber amüsieren. Und das sollte ich spätestens jetzt, da ich mit meinem strikten Ernährungsprogramm selbst zum Freak geworden bin, auch dürfen.
Abgesehen davon frage ich mich, was dieses lokale Weihnachtswettrüsten wohl einst verursacht hat. Meine Theorie: Die Ehefrauen, denen normalerweise unterstellt wird, für die Dekoration verantwortlich zu sein, hatten damit überhaupt nichts zu tun. Stattdessen begann wahrscheinlich alles mit einem ganz einfachen, aber soliden Platzhirschgehabe, das nach meinen Erfahrungen unter Berlinern ungefähr so abgelaufen sein dürfte:
»Kicka, Anita«, sagte Rudi und schob die Spitzengardinen in der Küche beiseite, »Schmitti von nebenan muss wieder mit seine Weihnachtsdeko prahlen. Na warte – wat der kann, kann ick schon lange!«
»Rudi, nu lass dich doch nich wieder … Rudi, wat machste denn?«
»Ick fahre zun Bauhaus, Lichterketten hol’n!«
»Aber bitte, tu nich übertreiben! Rudi, haste jehört?«
Mehrere Stunden später kam Rudi mit einem vom Baumarkt gemieteten Anhänger zurück, rief seinen Schwager an und trank mit ihm ein paar Gläser Adventswässerchen zum Vorglühen. Nachdem sie sich ausreichend über Schmitti aufgeregt hatten, ballerten sie das ganze Haus mit dem frisch gekauften Kitsch zu und stellten einen Rentierschlitten zwischen Gartenzwerg und Maschendrahtzaun auf. Mit großen Augen traten die anderen Platzhirsche der Umgebung schließlich vor ihre kärglich geschmückten Häuser und wurden blass vor Neid, als Rudi mit roter Nase den Hauptschalter umlegte und sein Haus in voller Pracht erstrahlte. Dann rannten sie zu ihren Frauen und beschwerten sich über Rudi – somit war der Dekokrieg eröffnet.
Mein Vater hält sich aus dieser Lichterkettenschlacht glücklicherweise heraus. Stattdessen hat er mit seiner Freundin im Wohnzimmer einen hübsch geschmückten Tannenbaum aufgestellt und eine prächtige Frühstückstafel gedeckt. Als auch meine drei restlichen Geschwister eingetroffen sind, zieht mein Vater die Gardinen zu und sorgt so für eine angemessen heimelige Atmosphäre. Dazu knistert das offene Kaminfeuer, auf dem Konzertflügel stehen Krippenfiguren aus Ton, und ein paar Kerzen und Teelichter bringen den Raum zum Schimmern: Weihnachten – da ist es endlich!
Kurze Zeit später stimmt mein Vater wie üblich die ersten festlichen Töne auf dem Flügel an, und so wie er sie spielt, schwingt kein
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