Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
Stückchen des grausamen Kitsches mit, der dieser Tage die Shopping Malls und Werbeblöcke im Fernsehen beherrscht. Nein: Mit seinem Spiel schafft er es, der Stimmung eine verträumte Anmut zu verleihen, eine nostalgische Geborgenheit, die mir in der Anwesenheit meiner Liebsten eine Ruhe verschafft, die ich seit Monaten nicht mehr verspürt habe. Je länger er spielt, desto unwichtiger erscheint es mir, ob hier der Geburtstag eines fiktiven Gurus gefeiert wird. Mir selbst genügen die irdischen Gründe für dieses Fest. Das Jahr klingt aus, die Tage werden ab sofort wieder länger, es ist Zeit, gemeinsam zu musizieren, zu essen, sich zu beschenken und der Dinge zu harren, die da kommen.
Mit Klara auf dem Arm beobachte ich meinen nicht wirklich alten Herren, wie er mit geschlossenen Augen die Finger über die Tasten gleiten lässt, den Oberkörper dabei langsam vor und zurück bewegt und dem über hundert Jahre alten Instrument sanfte Töne entlockt. Seine vollkommene Hingabe an die Musik, dieses feine Gespür für Harmonie, Melodie und Rhythmus, für Intonation und Dynamik haben mich schon als kleines Kind in ihren Bann gezogen.
Plötzlich klopft es an der Terrassentür. Wer wagt es, diesen vollkommenen Augenblick zu unterbrechen?
Es ist bloß der Nachbar, der diesen Moment mit einem Feiertagsgruß zerstört, mir aber damit klargemacht hat, warum ich dieses Fest trotz meiner leidenschaftlichen Traditionsaversion jedes Jahr aufs Neue begehe.
Mein Vater nimmt das Klavierspiel wieder auf, lässt die Improvisation langsam ausklingen und färbt sein Spiel immer stärker mit Bruchstücken einer urvertrauten Melodie. In einer kleinen Pause holt er tief Luft und sieht uns dann an:
»Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht …«
Gemeinsam singen wir das berühmteste Weihnachtslied der Welt, das sogar zum UNESCO -Kulturerbe erklärt wurde, und auch wenn mein Vater und seine Partnerin die Einzigen sind, die den Text über die erste Strophe hinaus kennen, wirkt dieses Lied wie eine gebührend festliche Eröffnung des Tages. Als wir uns nach ein paar weiteren Liedern an den Tisch setzen, greife ich an der Schinken- und an der Käseplatte vorbei nach den veganen Brotaufstrichen, die ich mitgebracht habe.
»Damit ist mein Sohn also nicht nur Atheist, sondern auch noch Vegetarier«, sagt Papa und schlägt lachend die Hände überm Kopf zusammen. »Deine Teilnahme am Abendmahl ist jetzt wohl endgültig ausgeschlossen …«
»Wieso das?«, will Sarah wissen, die in ihrer Kindheit deutlich weniger mit christlichen Legenden versorgt wurde als ich.
»Na, weil dort der Leib Christi verspeist wird«, sagt er und lacht wieder.
Während des Frühstücks kann ich Fragen nach meiner bisher erfolglosen Jobsuche immer wieder – wenn auch knapp – umschiffen, und bevor es für mich richtig ungemütlich wird, läuten meine Geschwister die Bescherung ein. Weil mein kleinster Bruder, der gemeinsame Sohn meines Vaters und seiner Freundin, gerade mal fünf Jahre alt ist, schleicht sich mein Vater heimlich mit der Kamera in den Garten und löst in der Nähe des Fensters mehrmals den Blitz aus. Ziemlich verunsichert rutscht der Vorschüler an uns Geschwister heran und klammert sich mit jedem Blitz, der durch das Fenster fällt, ein bisschen enger an uns. Mit einer Mischung aus Verehrung und Furcht – ein Gefühl, das im religiösen Wortkosmos als Ehrfurcht bezeichnet wird – lauscht er wenig später meinem zurückgekehrten Vater: Die Blitze seien der Mondschein, der sich im Flügelschlag der Engel spiegele. Denn selbstverständlich kommt in unserer Familie an Heiligabend nicht der Weihnachtsmann – der ist ja angeblich eine Erfindung von Coca-Cola. Das Christkind hingegen ist natürlich waschecht, kann fliegen und bringt Geschenke.
Wenn man die langen blutigen, rachsüchtigen und kriegerischen Teile der Bibel ausblendet, dann mag der restliche Zinnober für Kinder ja ganz nett sein. Aber wie fair ist es eigentlich, deren Leichtgläubigkeit zu nutzen, um ihnen derlei Märchen und Legenden als absolute Wahrheit zu verkaufen?
Ich zünde die Kerzen am Christbaum an und frage mich, was ich Klara einmal auftischen werde. Soll sie von Anfang an die Realität kennen, damit sie nach meinen Überzeugungen aufwächst? Und wie wichtig ist es mir eigentlich, dass sie diesbezüglich das Gleiche denkt wie ich? Immerhin ist sie ja nicht mein Eigentum, mit dessen Körper oder Geist ich anstellen kann, was ich will.
Als alle Kerzen
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