Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
Betrachtung ein bisschen bizarrer vor. Warum also beteilige ich mich eigentlich Jahr für Jahr an diesem Firmenjubiläum? Und warum schmeißen außer mir auch all die anderen Menschen, die sich als nicht religiös bezeichnen, ihr sauer verdientes Geld am Jahresende zum Fenster hinaus? Jesus’ Geburtstagsparty feiert ja in Deutschland wohl kaum noch jemand wirklich – ist es stattdessen ganz irdische Folklore?
»Wo warst du denn so lange?« Mit verschränkten Armen steht Sarah an der Straßenecke und schaukelt die schreiende Klara im Kinderwagen. »Wir warten hier, und warten …«
»Du siehst doch, dass hier die Hölle los ist«, unterbreche ich sie unwirsch. »Also: Wo müssen wir jetzt noch überall hin?«
Hektisch zählt sie ein paar Geschäfte auf. Beim dritten bekomme ich Bauchschmerzen, beim vierten Kopfschmerzen, und beim fünften bin ich kurz davor, Weihnachten dieses Jahr kurzerhand abzusagen. Aber damit würde ich wahrscheinlich meine Verwandten zutiefst kränken – und um die geht es doch beim Fest der Liebe, oder nicht?
Wichtig an Weihnachten sind den meisten Bundesbürgern laut Umfragen das traute Beisammensein mit den Liebsten, die gemütlichen Stunden am geschmückten Tannenbaum, die festliche Musik und das gute Essen. Okay, der letzte Teil wird bei mir ab sofort etwas weniger weihnachtlich ausfallen, denn tatsächlich war meine Metamorphose zum Foodfreak in den vergangenen Wochen nicht mehr aufzuhalten. Ganz eindeutig habe ich mich bei Frau Herrmann angesteckt und bin im Laufe des Dezembers langsam, aber sicher, zu einem von ihnen geworden: den Pflanzenfressern. Anfangs habe ich noch versucht, meine Infektion zu verheimlichen, doch mit jedem filetierten Leichenstück, das in meiner Nähe verschlungen wurde, mit jedem Glas Eutersekret und jedem Frühstücksei, im Zuge dessen Herstellung hunderte männlicher Küken lebendig geschreddert wurden, wuchs mein Unbehagen gegenüber tierischen Lebensmitteln. Zu Weihnachten, dem Fest von Karpfen blau, Gänsebraten und Co. ist das natürlich blöd, aber vielleicht ist eine traditionslastige Zeit wie diese auch genau das Richtige, um einen Schnitt zu machen und mit alten Gewohnheiten zu brechen.
Als wir knapp drei Stunden später mit zahlreichen Tüten, blanken Nerven und zwei geschröpften EC -Karten ins Auto steigen, hat sich die Stimmung zwischen Sarah und mir nicht gerade verbessert. Auf dem gesamten Heimweg wechseln wir nur ein Mal kurz ein paar Worte.
»Hast du mit deiner Mutter eigentlich schon geklärt, wo wir schlafen?«
»Ja, wieso? Denkst du, ich hab’s vergessen, oder was?«
»Entschuldige bitte, ich frag ja bloß!«
»Und ich antworte nur!«
Bis Klara abends endlich schläft, bleiben wir wortkarg, und auch am kommenden Tag beim Verpacken der Geschenke ist von Feiertagslaune keine Spur. So wie wir uns in den vergangenen Tagen aus purem Stress um Kleinigkeiten streiten, haben wir zuvor um eine wichtige Frage gekämpft – die Organisation des Patchwork-Weihnachtens. Weil sich nämlich sowohl meine als auch Sarahs Eltern getrennt haben und schon längst mit neuen Partnern zusammenleben, ist die Organisation der Besuche ein alljährliches Problem.
Sarahs Mutter ist mit ihrer neuen Familie vor vielen Jahren nach Baden-Württemberg gezogen, ihr Vater lebt nach wie vor in Berlin-Kreuzberg. Weil wir nicht jedes Jahr aufs Neue entscheiden wollen, ob wir die Feiertage im Nordosten oder im Südwesten des Landes verbringen, haben wir uns darauf geeinigt, die geraden Jahre bei ihrer Familie, die ungeraden bei meiner zu verbringen. Als im Februar jedoch Klara zur Welt kam, weckte dies in allen Großelternhäusern gleichermaßen den Wunsch, die Feiertage mit der ersten Vertreterin der nächsten Generation zu verbringen, und so haben wir in den vergangenen Wochen sämtliche Varianten durchgespielt und sind bei der einzigen Lösung geblieben, die unserer Tochter stundenlanges Autofahren quer durch die Republik erspart: Wir feiern Weihnachten in Berlin und besuchen die Badener im Frühling zur christlichen Auferstehungsparty. Dennoch ist bei Sarah eine Restunzufriedenheit zu spüren, und ich habe leider keinen blassen Schimmer, wie ich sie aufmuntern könnte. Außerdem ist der Heilige Abend bei den Möllers immer mit Rennerei verbunden, was damit zusammenhängt, dass mein Vater hauptamtlicher Kirchenmusiker ist und die Weihnachtsfeiertage weitgehend hinter der Orgel verbringt. Als meine Eltern noch zusammenlebten, fuhren wir als Familie einfach mit zur
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