Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
angezündet sind, verspreche ich mir, meine Tochter immer ihren eigenen Weg gehen zu lassen, sie aber frühzeitig über all die Gedankengebäude aufzuklären, mit denen andere Menschen früher oder später auf sie zukommen werden. Meist eher früh als spät: Religionsvertreter und Parteifunktionäre, Spielzeughersteller, Nahrungsmittelproduzenten und andere Scharlatane haben verstanden, dass sie auf ihre Klienten so früh wie möglich zugehen müssen. Als Vater möchte ich meinem Kind den gedanklichen Impfstoff gegen all diesen Unsinn selbst verabreichen, denn auf unser Schulsystem will ich mich – nach allem, was ich darüber aus eigener Erfahrung weiß – lieber nicht verlassen.
Nach der Bescherung entschuldigen sich mein Vater, Marita und ihr gemeinsamer Sohn, um sich für die Messe umzuziehen.
»Schick, schick!«, ruft Sarah, als die drei einige Zeit später fein gekleidet wieder herunterkommen. Sie wirft einen Blick auf mein Pullunder-Jeans-und-Hausschuh-Outfit. »Also, wenn es ein Grund ist, sich mal wieder hübsch zu machen, dann könnt ich mir so einen Kirchenbesuch auch mal wieder vorstellen. Oder, Philipp, was meinst du?«
»Also, wenn der eine Kirche betritt«, schaltet sich Marita mit einem Augenzwinkern ein, »dann muss danach aber das Weihwasser ausgewechselt werden.«
In dem guten Gefühl, diese gegensätzlichen Positionen innerhalb der eigenen Familie zu ertragen, verabschieden wir uns voneinander. Meinen geliebten Vater nehme ich lange in den Arm, bedanke mich bei ihm für die lockere und trotzdem festliche Stimmung und wünsche den dreien schöne Feiertage. Dann begeben meine beiden anderen Geschwister, Sarah, Klara und ich uns auf den Weg zum Haus meiner Mutter: Heiligabend Teil 2 kann beginnen.
Meine Mutter kommt schon vor dem Klingeln an die Tür. Sie knuddelt als Erstes ihre Enkeltochter und schließt uns dann der Reihe nach in die Arme. Danach machen wir es uns mit ihr, ihrem Mann Georg und seinem Sohn im weihnachtlichen Wohnzimmer gemütlich. Mein Stiefbruder Tim und ich haben in der Grundschule eine gemeinsame Klasse besucht. Im Gegensatz zu mir sieht seine Karriere jedoch etwas gradliniger aus: Abitur, Zivildienst, Studium der Luft- und Raumfahrttechnik, mit Diplom abgeschlossen und jetzt Doktorand im Flugzeugbau, der zwischen den USA , Stockholm und Stuttgart pendelt. Tja, der Ingenieur hat’s eben nicht so schwör − wie ein arbeitsloser Ex-Lehrer.
Da es inzwischen schon kräftig dämmert, ist die Stimmung bei meiner Mom noch beschaulicher als zuvor. Der Weihnachtsbaum hat einen prominenten Platz gegenüber der Couchlandschaft gefunden, auch hier lodert das Kaminfeuer, auch hier ist der Tisch schon gedeckt. Kerzen jeglicher Größe und Farbe flackern im gesamten Raum, während Georg zur Begrüßung eine Flasche Sekt öffnet.
»Prost, ihr Lieben!«, sagt meine Mutter und eröffnet damit offiziell den zweiten Teil des Heiligabends.
Als alle ein Schlückchen Sekt genommen haben, kehrt kurz Stille ein.
»Und, Philipp, was macht die Jobsuche?«, fragt mein Stiefbruder dann.
Die Blicke der gesamten Familie sind nun auf mich gerichtet. Muss der das ausgerechnet jetzt fragen?
»Läuft«, antworte ich nach einem Moment. »Wenn auch etwas schleppend, aber läuft.«
»Arbeitest du denn noch bei dieser Versicherung?«, fragt er und grinst.
»Im Callcenter«, korrigiere ich ihn. »Das ist ein Institut für Markt- und Meinungsforschung.«
Meine Stimmung ist nach diesem kurzen Schlagabtausch auf dem Tiefpunkt. Da ist Weihnachten, und wie sieht meine Bilanz aus? Keine Kohle, kein ordentlicher Job, eine seit Tagen schlecht gelaunte Freundin und nun auch noch ein Stiefbruder, der sich zu Recht über meinen miserablen Job lustig macht!
Meine Mutter greift dankenswerterweise ein, indem sie unser Heiligabendritual startet. »Und, was war euer schönster Moment in diesem Jahr?« Sie wirft einen liebevollen Blick auf Klara. »Ich fang an: als ich meine Enkeltochter das erste Mal im Arm gehalten habe!«
Jeder weiß sofort, was er sagen soll. Wie gut, dass ich in diesem Jahr Vater geworden bin, sonst müsste ich bei der Beantwortung der Frage wohl passen. Die ersten sechs Monate als Lehrer waren zwar aufregend, aber auch aufreibend – und was danach kam, lässt bisher sehr zu wünschen übrig. Bleibt nur zu hoffen, dass es im nächsten Jahr wieder bergauf geht.
»Und jetzt eure Wünsche fürs neue Jahr«, fordert meine Mutter.
Das Mitleid, mit dem mich plötzlich alle anschauen, erdrückt
Weitere Kostenlose Bücher