Binärcode
schwingt sich auf die Rückbank und zieht eine 44er aus seinem Köfferchen …
Wie aufregend war doch Rünz’ öder Ermittlungsalltag, wenn er mithilfe seiner Fantasie nur ein paar kleine Details modifizierte! Stadelbauers 70er-Outfit hatte ihn zu seinem kleinen Tagtraum inspiriert. Er saß mit dem Astronom in seinem Dienstwagen, sie standen auf dem obersten Deck des Parkhauses in der Hügelstraße. Sie waren völlig allein, abgesehen von einem schwarzen Allradler mit abgedunkelten Scheiben, der ein paar Reihen hinter ihnen stand. Stadelbauer dozierte ohne Punkt und Komma über das Fermi-Paradoxon, die Rio-Skala und das anthropische Prinzip, während Rünz sich auf die junge Frau konzentrierte, die sich im Bad der Dachgeschosswohnung auf der anderen Straßenseite entspannt zurechtmachte. Sie schaute ab und an zu den beiden Männern herüber, schien sich aber nicht belästigt zu fühlen. Irgendwann verschwand sie im Nebenzimmer. Rünz sah durch den Vorhang, wie sie telefonierte.
»… oder sind Sie noch einer von diesen Kohlenstoffchauvinisten?«
»Ähm – wie? Was ?« , stotterte Rünz, er hatte nicht zugehört. »Also das hat mir meine Frau noch nicht vorgeworfen .«
»Ich meine, ob Sie einer von denen sind, die glauben, intelligentes Leben könne nur auf der Basis von Kohlenstoffverbindungen existieren .«
Rünz’ Aufmerksamkeit war auf die äußerst attraktive Kohlenstoffverbindung in der Wohnung auf der anderen Straßenseite konzentriert. Stadelbauer wartete gar nicht erst auf eine Antwort.
»Ich halte das für Unsinn. Leben bedeutet nichts anderes als Komplexität jenseits des Equilibriums, die chemische Basis ist doch völlig nebensächlich. Ich meine, manchmal muss man einen Schritt zurücktreten, um das Ganze zu sehen !«
Das Letzte hatte er sich aus irgendeinem Science-Fiction-Movie abgekupfert, Rünz hatte Jodie Foster vor Augen, aber ihm fiel der Filmtitel nicht ein. Das Autoradio zwitscherte leise vor sich hin. Stadelbauer hielt plötzlich mitten im Satz inne.
»Kann ich das lauter machen ?« , fragt er, die Hand schon am Regler.
Bob Dylan nölte eine fast zur Unkenntlichkeit entstellte Spätinterpretation einer seiner Klassiker.
»Das ist Bob Dylan«, sagte Rünz und drehte die Lautstärke wieder runter. Er betonte es wie ›Rauchen ist stark krebserregend‹.
Stadelbauer schaute ihn an, als bereitete ihm diese Bemerkung körperliche Schmerzen. Wie er so dasaß, mit seinem Kraushaar, seinen Koteletten und dem zerknirschten Gesichtsaudruck, wie ein gekränkter 15-jähriger Boygroup-Fan.
»Mögen Sie Dylan ?« , fragte Rünz.
»Ob ich ihn mag? Bob Dylan ist Gott !«
Rünz hatte sich Gott immer etwas anders vorgestellt, nicht wie einen talentfreien Barden mit einer wischmoppartigen Kopfbedeckung. Aber er musste vorsichtig sein mit seinen Äußerungen, er war mit einem leibhaftigen Dylan-Aficionado zusammen.
»Ist das nicht ›Like a rolling stone‹ von Wolfgang Niedecken? Wusste gar nicht, dass Dylan den Song gecovert hat .«
Rünz’ Scherz taute die frostige Atmosphäre nicht merklich auf. Kein Wunder, durchschnittliche Pop- und Rockstars hatten Fans, Dylan hatte Jünger. Der Folksänger war unter seinen Bewunderern sakrosankt – kein noch so lustlos dahingeschrammelter Folksong, der nicht als musikalische Offenbarung abgefeiert wurde, kein noch so steinblödes Interview-Statement, das ihm nicht von einer ergebenen Anhängerschaft als brillante ironische Replik ausgedeutet wurde. Dabei war sein Erfolgsrezept überraschend einfach. Man musste nur irgendeine künstlerische Tätigkeit – zum Beispiel Singen – überhaupt nicht beherrschen, und mit einer zweiten kombinieren, die man noch weniger unter Kontrolle hatte – zum Beispiel Mundharmonikaspielen –, und dann lange und nachhaltig sein Publikum ignorieren. Es war wie bei den Geisteskranken unter den Eingeborenen in Neuguinea, denen die Stammesbrüder und -schwestern den kurzen Draht zu den Göttern zuschrieben. Ein einziges Wesen existierte, das mit Dylans Wirkung auf seine Bewunderer gleichziehen konnte – das Dalai-Lama.
Rünz hatte Lust auf einen kleinen Dylan-Diskurs, aber Stadelbauer zu verärgern war keine konstruktive Idee, er würde ihn noch brauchen. Er versuchte, den Astronomen vom Klangbrei aus dem Radio abzulenken.
»Wo arbeitet Ihr Freund Werner noch mal ?«
»Im Institut für Graphische Datenverarbeitung, die gehören zur Fraunhofer-Gesellschaft«, knurrte Stadelbauer. »Sitzen direkt hinter dem neuen
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