Bindung und Sucht
Methoden der Forschung am Menschen selbst mit modernen hirnbildgebenden Verfahren nicht erreicht wird. Zu den elementaren Emotionssystemen zählen mindestens die folgenden sieben fundamentalen neuropsychologischen Prozesse: SEEKING (Such-, auch Erwartungs-, Antriebs- oder Belohnungssystem), RAGE (Wutsystem), FEAR (Angstsystem), sexual LUST (Lustsystem); maternal CARE (Fürsorgesystem); separation-distress PANIC/GRIEF (im Folgenden kurz PANIC) und joyful PLAY (Spielsystem). Wohl kann jeder Aspekt unseres Gefühlslebens von der Depression beeinflusst sein; wahrscheinlich ist aber, dass die Depression auch ihrerseits zwei ganz erheblichen Einflüssen unterliegt, nämlich a) einer Überaktivität des Trennungsschmerz-/PANIC-Systems, die, wenn sie fortdauert, zu einer Abwärtskaskade führen kann, die als psychische Verzweiflung bekannt ist, und b) der Phase der Verzweiflung, die auf die akute PANIC-Reaktion folgt und von einer abnorm geringen Aktivität des SEEKING-Systems gekennzeichnet ist, die ihrerseits zur Depression führt. In Begriffen eines relativ einfachen vorklinischen (Tier-)Modells spiegelt die Depression das durchgängige verhaltensbezogene und emotionale »Abschalten« bzw. Verzweifeln, das auf eine anhaltende Phase von Trennungsschmerz folgt. Die anfängliche Agitation in Reaktion auf einen sozialen Verlust kann einen Erregungszustand reflektieren, der zum Teil durch das SEEKING-System vermittelt ist, während die »Phase der Verzweiflung«, die auf anhaltenden Trennungsschmerz folgt, durch nachlassende SEEKING-Impulseund einen depressiven Affekt charakterisiert ist. So gesehen, kann die Depression ein von der Evolution selektierter (und tatsächlich bei allen Säugetieren vorhandener) Mechanismus zur Beendigung des anhaltenden und unerträglichen Trennungsschmerzes sein, wie dies erstmals von John Bowlby (1960, 2006) formuliert wurde.
Vier dieser elementaren Systeme vermitteln also affektiv positive Verhaltensimpulse: SEEKING, LUST, CARE und PLAY, wobei die drei letztgenannten einen erheblichen Gebrauch vom SEEKING-Impuls machen. Die drei übrigen vermitteln affektiv negative Emotionen: RAGE, FEAR und PANIC / GRIEF. Wir haben uns im Blick auf die Diskussion dieser Systeme für die ungewöhnliche Schreibweise mit Großbuchstaben entschieden, weil wir explizit darauf aufmerksam machen wollen, dass es sich hier um evolutionär vererbte bzw. um Basis emotionen handelt, die allen Säugetierhirnen von der Evolution »eingebaut« wurden; sie sind primär-bewusster Natur. Diese Schreibweise kann als rigoroses und damit wirkungsvolles Mittel dienen, Aspekte des Geistes zu diskutieren, die von der modernen Psychiatrie noch keineswegs durchweg anerkannt werden (Panksepp 2006). Diese elementare Ebene des emotionalen Funktionierens mit exekutiven neuronalen Netzwerken, konzentriert in den mittleren subkortikalen Regionen des Gehirns, ist erst vor kurzer Zeit überhaupt zur Kenntnis genommen worden und kann als Ausgangspunkt einer affektiv orientierten neurowissenschaftlichen Sicht auf psychiatrische Störungen dienen. Wir haben daher einige Mühe darauf verwendet, Persönlichkeitstests zu entwickeln, die speziell darauf angelegt sind, die Stärken und Schwächen der menschlichen Basisemotionen zu evaluieren (siehe Davis et al. 2003; Davis & Panksepp 2011). Das könnte von besonderem Nutzen für Psychotherapeuten sein, denen damit ein gemeinsames Maß zur Erfassung des Status solcher Emotionen im Leben ihrer Patienten und vielleicht auch zum Vergleich zwischen Individuen an die Hand gegeben wird.
Diese Systeme (SEEKING, LUST, CARE und PLAY) können als »evolutionäres Gedächtnis« – als in das Gehirn »eingebaute« mentale Funktionen – betrachtet werden, die mit äußeren Geschehnissen interagieren, um Lernprozesse in Gang zu setzen (die wir hier als »Sekundärprozesse« bezeichnen wollen, weil sie in höheren Hirnregionen angesiedelt sind, vor allem in den sogenannten Basalganglien, in Regionen wie der Amygdala, dem Bed Nucleus der Stria terminalis und dem ventralen Striatum). Diese Lern- und Gedächtnisfunktionen des Gehirns scheinen weitgehend unbewusst zu sein, während der Primärprozess eine Art elementarer Bewusstheit generiert – rohe Formen des affektiven Befindlichkeitserlebens, wie wir sie bei Tieren mit Hilfe der Tiefen Hirnstimulation (THS) studieren können, die »Belohnungs«- und »Bestrafungs«-Wirkungen anzeigt,also jene Aspekte des Lernens, die in der anglo-amerikanischen Tradition
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